II. Kälte

 

„Fast nichts. Was bleibt?“- unter dieses Motto stellte ich im Jahr 2016 meine „Kammermusik I für Agnes Martin“ die in vielerlei Hinsicht zu einem Schlüsselwerk in meiner kompositorischen Entwicklung während des Studiums in Lübeck und Estland geworden ist. Die Thematik von extremer Reduktion und des reinen Minimalismus beschäftigt mich schon seit Jahren. Von Anfang an war für mich dieser Themenkomplex Hauptbestandteil meiner Recherchen und Analysen und die damit verbundenen Überlegungen zur Rolle und Darstellung von Kälte, Reinheit und kristallklarer Präzision mit musikalischen Mitteln, zieht sich durch viele Kompositionen hindurch. Musikalische Vorbilder waren hierfür unter anderem Claude Viviers „Glaubst du an die Unsterblichkeit der Seele“ (1982-83), Hans Abrahamsens „Schnee“ (2006-08), Franco Donatonis „Lumen“ (1975) oder die spätromantische und vom Winter inspirierte Musik von Tschaikowsky, Sibelius oder Vaughan-Williams.

 

Kälte hat für mich verschiedene Bedeutungen, wenn es um die musikalischen Definitionen des Wortes geht. Zunächst einmal die Anwesenheit von etwas Kaltem, eine Darstellung der Verrohung, Taubheit, des Schweigens und der Abhärtung in Form von extremer Brutalität und Strenge über einen längeren Zeitraum hinweg. Gleichfalls auch die Negation dessen, die Abwesenheit von Wärme, die sich in einer gewissen Sehnsucht, einem Verlangen oder Vermissen ausdrückt, dem Drang danach, etwas Warmes und in sich Geschlossenes zu erschaffen, z.B. lange dramaturgische Entwicklungen, einen romantischen Hochpunkt oder melancholische Melodien und dennoch ständig daran zu scheitern oder es nicht unreflektiert präsentieren zu können. Kälte kann ebenfalls in einem Durchgangsstadium deutlich werden, als plötzlicher Kontrast oder Schock, als harter und schroffer Bruch. Politische, soziologische und psychologische Elemente können ebenfalls mit Kälte assoziiert werden, dies geschieht zum Beispiel wenn ich in meinen „Fünf makabren Gesängen“ bewusst körperliche Zustände wie Hyperventilation, Dissoziation oder Atemnot aufgreife oder in meinem „Nonett I“ auf kargem und minimalem Raum einzelne Worte und Parolen fragmentiere und ausrufe. Hier wird nicht zuletzt auch das körperliche Gefühl der Kälte deutlich dargestellt oder imitiert: das Zittern, die brüchige und flüsternde Stimme, eine gewisse Mimik, Gestik oder Bewegung. Zuletzt ist Kälte in der Musik und in der Kunst allgemein auch immer verbunden mit einem reichen Schatz an Assoziationen, man denke zum Beispiel an Märchen oder fantastische Geschichten, an die Poesie von Winter, Eis, Schnee, Kälte und Stille.

 

Eben solch ein ästhetisch stilisiertes Bild war auch der Auslöser für die Komposition von „I miss the cold“ (29.06.-24.10.2018). Nach meinem Winter- und Frühlingssemester an der Estnischen Musikakademie in Tallinn bei Helena Tulve, war ich auch langfristig geprägt von den Erfahrungen, die ich dort gemacht hatte und die nicht zuletzt eng verbunden waren mit der realen Kälte und Kargheit der Natur, der kühlen und verschlossenen Art der Menschen und der fragilen und zart melancholischen Vokalmusik, die ich dort kennenlernte. So setzte ich mich auch nach meiner Rückkehr mit diesen Gefühlen und Eindrücken auseinander und kam zurück auf einen Komponisten, der mich schon zu Beginn meines Bachelorstudiums beschäftigt hatte: Helmut Lachenmann.

 

Lachenmann schuf mit seiner Oper „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ (1990-96) ein massives und monumentales Beispiel für die Rolle der Kälte in der Musik, welches auch in verschiedenen Texten auf diese Thematik und Bildlastigkeit hin untersucht und interpretiert wurde; gerade auch weil in ihr die vorhin angedeuteten verschiedenen Arten von Kälte, aus politischer, struktureller, musik-immanenter oder vokal-körperlicher Sicht alle anzufinden sind. Diese Oper und auch das damit verbundene Stück „… zwei Gefühle...“ (1992), welches mich schon bei der Komposition von „sibylline“ angeregt hatte, sind für mich Kompositionen, die ich zu tiefst schätzen und lieben gelernt habe. Ich bin jedes Mal aufs Neue fasziniert von der unendlichen Weite und Wüste, den schroffen Schneeflächen, dem zarten Flackern, den hellen Kristallen und scharfen Eiszapfen, dem röchelnden Hröchelnden Hröchelndenauchen des Windes und des weißen Rauschens. All diese Klangbilder erinnern mich an die Kunst in weiß, die ich so sehr liebe, an Werke von Per Kirkeby mit seiner Darstellung der nordischen Natur in kalten blau-weißen Farben des weiten Eismeeres oder an das Weiß in den Skulpturen von Cy Twombly, den Porzellan-Kunstwerken von Edmund de Waal oder den Leinwänden von Robert Ryman.

 

Kälte ist für mich eine Stimmung, nach der ich mich sehne, in der ich mich wohlfühle, in der ich ruhig und entspannt werde. Andererseits ist die Kälte für viele auch verbunden mit großen Ängsten: der Angst vor dem Erfrieren, der schuldigen Passivität, dem ohnmächtigen Erstarren, der schutzlosen Opferrolle, dem zwanghaften Nichtstun oder der nihilistischen Langeweile und Sinnlosigkeit. Ich bin mir all dieser negativen Konnotationen und durchaus auch problematischen Wirkungen bewusst und vielleicht liegt gerade in diesem Spannungspotenzial der große Reiz und die Faszination, die diese Thematik auf mich ausübt.

 

Die für mich stärkste Geschichte über die Kälte ist das Kapitel „Yor, der blinde Bergmann“ in Michael Endes „Die unendliche Geschichte“. Schon von Kindheitstagen an gefiel mir dieser Abschnitt am besten und immer wieder kam ich auf ihn zurück, in der Absicht, ihn eines Tages in Musik umzusetzen. Das Kapitel handelt von einem Mann, dessen Aufgabe es ist, in einem Bergwerk, welches in einer unendlichen, leeren Eiswüste liegt, nach feinsten Glasplatten zu graben, die die nach dem Aufwachen vergessenen geträumten Träume der Menschen festhalten, um diese ans Tageslicht zu befördern, wo er sie im sanften Schnee gebettet lagert. Der junge Held der Geschichte hat in den vergangenen Kapiteln eine lange Reise hinter sich gebracht, in der er zunächst alles bekommen konnte, was er sich von Herzen gewünscht hatte, dabei jedoch immer tiefer in einen Teufelskreis geriet, alles verlor und vergaß und nun nichts mehr besitzt, außer seinen Namen. Dieser Mensch trifft auf den alten Bergmann und wird von ihm in die Arbeit im Bergwerk eingewiesen, in welchem er sich auf eine geduldige Suche begibt, von der er nicht weiß, wohin sie ihn führen wird.

 

Schon vor meinem Studium in Lübeck wollte ich zu diesem Text Musik komponieren, doch nie fand ich eine passende Strategie oder Klangwelt. Die Gefahr, eine banale Filmmusik, eine kitschige Romance, eine komische Nacherzählung oder eine zu abstrakte Dekonstruktion der Geschichte zu präsentieren war stets zu hoch. Dann beschäftigte ich mich 2019, inspiriert von Helmut Lachenmanns Werken, wieder mit „Yor“ und fand einen für mich passenden Weg- eine Komposition für ein elektronisches Wiedergabegerät (später wurde aus dem Livestück dann eine Klanginstalltion ohne Anfang und Ende).

 

Mein Verhältnis zur elektronischen Musik ist durchaus zwiespältig. Seit meinem ersten Besuch auf dem Festival „Connecting the northern dots“ der elektronischen Studios der norddeutschen Hochschulen 2015, wurde deutlich, dass ich kein Interesse habe an den konventionellen elektrischen Spielereien, der Überladenheit durch die klassischen Effekte (Hall, Delay, Phaser, Loop, rückwärts abgespielte Klänge,…), den multimedialen Präsentationsformen und der von den Grenzen und Möglichkeiten der Programme und Geräte gelähmten Kompositionsweise mancher elektronischer Stücke. Gleichzeitig war ich schon immer begeistert gewesen vom Hörspiel als Medium und vor allem den Arbeiten von Luc Ferrari mit seiner O-Ton-Poesie, einer Musik die basiert auf der Montage, Collage und dem bewussten Cutting von zuvor aufgenommenen Tönen, Sprachfetzen und Geräuschen.

 

Dass ich mich für die Realisierung dieses Stückes dann für ein elektronisches Wiedergabegerät (zunächst sogar in quadrophoner Anordnung, später in Form eines Monolautsprecher) entschied, hing nicht zuletzt auch mit meiner Faszination für die Arbeit im Sound Design zusammen. Das neugierige Suchen, aufmerksame Zuhören, achtsame Aufnehmen und feinfühlige Beobachten, welches mit diesem Akt verbunden ist, entspricht genau den Elementen, die mir für meine Musik allgemein wichtig sind.

 

Wenn ich für elektronische Medien arbeite, dann aus bestimmten Gründen, die für alle meine bisherigen elektronischen Werke gültig sind:

 

·         Technik: das nicht Menschliche ist im Mittelpunkt, man hört das Gerät, das Grundrauschen und die technischen Störungen. Die dadurch entstehende Verstärkung des Gefühls von Entfremdung und Distanzierung zu uns menschlichen Zuhörer*innen ist gewollt.

 

·         Perfektion: in der elektronischen Musik ist es möglich, bis ins winzigste Detail alle Parameter zu kontrollieren, absolute Kontrolle über alles zu übernehmen und durch extreme Konstruktion irreale Räume und Welten zu erschaffen.

 

·         Wahrnehmung: entscheidend ist die Diskrepanz zwischen unserer menschlichen Wahrnehmung und der maschinellen Produktion, das Wechselspiel von Veränderung und exakter Wiederholung, die Diskrepanz von Unspielbarkeit oder Unvorstellbarkeit und der extrem unnatürlichen Monotonie und Stille.

 

·         Raum und Zeit: elektronische Medien ermöglichen es, ungekannte Formen von Weite und Leere, Chaos und Ordnung, Spannungen, Sprüngen, Synchronizität und Durchgängen darzustellen, die kompositorisch genutzt werden können.

 

·         Phänomene: die Mittel sollen, einem Mikroskop oder experimentellen Setting gleichend, dazu dienen, uns wie Forscher heranzuführen an neue Arten der Analyse, der Selbststudien und der Erprobung von Grenzen.

 

„I miss the cold“ baut nun auf eben diesen Regeln oder Dogmen auf. Von der Geschichte Michael Endes inspiriert entschied ich mich dazu, nur zwei musikalische Materialien zu verwenden, die ich damit assoziativ in Verbindung brachte: eine ewige und scheinbar stillstehende Fläche von weißem Rauschen (die Landschaft, welche Yor umgibt) und winzige Punkte mit minimaler und filigraner Varianz (die zarten Glasbilder, welche Yor ausgräbt). Entstanden sind beide Elemente in einer Aufnahme im Kompositionsraum der Musikhochschule Lübeck, das Rauschen als extrem verstärktes Grundrauschen des leeren Zimmers in Verbindung mit dem Eigenklang des Aufnahmegeräts und die einzelnen Punkte aus Vokalaufnahmen des geflüsterten Titels. Da ich keine verständlichen Silben, Wort oder Satzfolgen verwenden wollte, zerlegte ich den Satz „I miss the cold“ in seine Bausteine und nahm diese in verschiedenen Interpretationen auf. Dabei fiel mir auf, dass beim Klang eines verstärkten, langen „th“ [ð] kleine Ticks zu vernehmen sind, die durch Luftbläschen im Mund entstehen und die ich durch die Positionierung des Mikrofons und durch die Intensität der Artikulation kontrollieren konnte. So konzentrierte ich mich einzig und allein auf diese Geräusche und nahm mehr als hundert verschiedene Klicklaute dieser Art auf.

 

Den Dogmen entsprechend wollte ich diese Geräusche komplett roh und unbearbeitet arrangieren und nur durch den Cut, das Platzieren in die Zeit, das Verteilen auf die quadrophone Lautsprecheranlage und das Bestimmen der unterschiedlichen Lautstärken (also der klanglichen Positionierung im dreidimensionalen Raum zwischen den Lautsprechern), dieses Stück komponieren und gestalten. Das Rauschen wurde in einem Take aufgenommen und für verschiedene Aufführungen auch durch Aufnahmen von den entsprechenden Konzertsälen ersetzt. Von den Klicks, die nur wenige Millisekunden dauerten, schnitt ich 108 verschiedene aus den Aufnahmen heraus und sortierte sie zunächst in drei Kategorien: helle, dunkle und in einem Mittelbereich liegende Klänge.

 

Nun muss erklärt werden, warum „I miss the cold“, welches zeitgleich zu „sibylline“ entstand, nicht nur assoziativ, sondern auch strukturell als Geschwisterstück des Trios für Violine, Klavier und Orgel angesehen werden kann. Für die Verteilung der Klicks in den Verlauf des Stückes über einen Zeitraum von 8min 15sek entschied ich mich dazu, die in der grafischen Spacenotation von „sibylline“ angelegten Proportionen eins zu eins in die lineare Form der elektronischen Installation zu übertragen. Dazu maß ich den realen Abstand in cm der zwischen den einzelnen Gesten mit eigener Ausdrucksangabe (den 108 Gefühlen) lag und übersetzte ihn mit dem Verhältnis 3/5 in einen Abstand in Sekunden. Das heißt, ein grafischer Abstand von 1cm in der Partitur von „sibylline“ hatte eine Pause von 0,6sek zwischen zwei Klicks zur Folge.

 

Zudem beeinflusste die Art des Adjektivs, die ja nach Wärme, Kälte und Energie sortiert waren, in welcher Klangfarbe der Klick an der jeweiligen Position gespielt wurde. Die dunklen Klicks erklangen bei einer Ausdrucksangabe aus dem Spektrum der Kälte, helle anstelle von warmen Assoziationen und mittlere für energetische Gefühle. Daraus entstand eine unendliche Fläche mit einer stets unvorhersehbaren Abfolge von Punkten niemals wiederkehrender Klänge, die sich dadurch dennoch wieder ähnlich wurden, immer am Rande der Wahrnehmbarkeit, als Mikrofragment zu kurz, um als Geste aufgefasst zu werden und in den zeitlichen Abständen zu lang, um als Rhythmus wahrgenommen zu werden.

 

Diese Überlegungen zu der Rolle und Darstellung von Kälte in der Musik und Kunst fanden in „I miss the cold“ ihren Anfang, jedoch begleiteten sie mich durch mein gesamtes Masterstudium hindurch. Die verschiedenen Arten der Kälte, die ich zu Beginn beschrieben habe, die Abwesenheit, die Anwesenheit, das Durchgangsstadium, das emotionale/ soziologische oder politische Potenzial, sie alle wurden unterbewusst zu einer Grundprämisse für meine Ästhetik: eine Ästhetik der Reduktion, Konzentration, Kargheit, Spröde und intensiven Energie.