Mein Masterstudium begann im September 2018 mit einem Besuch der Volksrepublik China. Ich war für meine Komposition „Quintett II“ ausgezeichnet und zur New Music Week des Shanghai Conservatory of Music eingeladen worden, in der dieses Stück vom Ensemble Soundstreams aus Toronto aufgeführt wurde. Mit dieser Reise ging ein großer Traum von mir in Erfüllung, endlich einmal selbst nach China zu kommen und das Land sowie die Gesellschaft und Kultur selbst erleben zu dürfen. Schon seit frühen Kindheitstagen war ich von der Nation, ihrer Geschichte, ihren Widersprüchlichkeiten und ihren Besonderheiten begeistert und fasziniert gewesen und ich hatte mich auch in den vergangenen Jahren ausführlicher mit China beschäftigt.
Es war überraschend, wie intensiv sich die zehn Tage dort gestalteten, zunächst verbrachte ich einige Zeit mit meinem Freund in seiner Heimat in Wuhu (Anhui) und lernte dort das alltägliche Leben der einfacheren Bevölkerung kennen. Danach wurde ich mit dem modernen, luxuriösen und bunten Bild der Megacity Shanghai konfrontiert. Diese Erfahrungen machten mich nachdenklich über die großen Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen meiner Heimat und dieser anderen Seite der Welt- vor allem in Hinblick auf politische Strukturen, gesellschaftliche Normen, Rechte und Rolle des Individuums gegenüber der Gemeinschaft, sozialen Konstruktionen, individuellem Lebensstil und familiären Erwartungshaltungen.
Ebenso prägend auf mein Denken wie diese eher unterbewussten Impulse, war das Zusammentreffen mit Claus Steffen Mahnkopf im Rahmen einer Masterclass. Er hielt einen Vortrag über seine Idee des Polywerks sowie seine Kompositionen für Klavier, welche von Ermis Theodorakis, den ich ein Jahr zuvor während der Komponistenresidenz im Beethoven Haus Bonn kennengelernt hatte, auch im Rahmen des Festivals gespielt wurden. Mahnkopf präsentierte sich in Shanghai wie ein veralteter, elitärer Dandy, der den Überfluss und die Dekadenz lobte, begeistert war vom Prunk großer Architektur und Kunst und der wie eine Verkörperung des privilegierten weißen Mannes zu Besuch im exotischen China wirkte, zumal ich mich selbst ja mit dieser Rolle konfrontiert sah. Trotz oder vielleicht gerade wegen meiner inneren Widerstände mit seiner Person, brachten mich seine Themen zum Nachdenken und auch seine zwei Klavierstücke „Rhizom“ (1988/99) und „Kammerstück“ (1995) sprachen mich musikalisch durchaus an.
Zurück in Lübeck und nach offiziellem Beginn meines ersten Mastersemesters verbrachte ich die ersten Wochen damit, ausgiebiges Studium der Texte von und über Claus Steffen Mahnkopf und der mit ihm in Verbindung gebrachten Komponisten zu betreiben. Die im Zusammenhang mit seiner Arbeit assoziierten und verwandten Komponisten faszinierten mich dann teils deutlich mehr und brachten stets neue Gedanken und Erfahrungen in mir hervor. Die Studienreise ging zunächst von seinem Lehrer Brian Ferneyhough und dessen „Les Froissements d'ailes de Gabriel“ (2003) über Jean Barraqué, mit dem ich mich schon zu Beginn meines Bachelorstudiums ausgiebig beschäftigt hatte, und dessen „Chant après Chant“ (1966) und „Piano Sonata“ (1950-52) sowie Pierre Boulez, der im Mittelpunkt meiner Studien während des Erasmussemesters in Tallinn gestanden hatte, und sein „Pli selon Pli“(1962/ 1989) bis hin zu Brice Pauset.
Was mich an diesen Komponisten interessierte, war deren Kompositionsweise, die sich vereinfacht als eine Form der (New-) Complexity oder aber auch, gerade aus meiner Sicht, als eine Form des modernen Barocks und modernen Symbolismus beschreiben ließe. Vor allem von Brice Pauset war ich sehr bewegt und inspiriert. Seine Musik ist stets so voller Mikrostrukturen und punktuellen Gesten und gleichzeitig gelingt es ihm, große Bögen und spannungsreiche Verläufe zu erschaffen. Als Beispiele für diese Art der Komposition sind vor allem sein „Concerto I - Birwa“ (2002) für Cembalo und Kammerensemble und sein großer Zyklus für zwei Stimmen und Ensemble „Vanités“ (2000-2002) zu nennen. Wenn ich im Bezug der aufgezählten Komponisten und Werke von einer Idee des modernen Barock oder Symbolismus spreche, so handelt es sich hierbei um meine persönliche Assoziationswelt und Begriffe, die ich in meinem Studium und dann auch in Bezug auf meine eigenen Kompositionen für diese Formen gewählt habe und keine gesicherten musikwissenschaftlichen Definitionen.
Meine Komposition „sibylline“ (27.08.-22.10.2018) sollte eine Umsetzung meiner Vorstellung des „modernen Barock und / oder Symbolismus“ in die Praxis werden oder anders ausgedrückt: eine praktische Erprobung der von mir in den Studien gefundenen und gesammelten Probleme, Strategien und ästhetischen Vorstellungen. Das Stück „sibylline“, mein Trio I, entstand im Auftrag der Studienstiftung des deutschen Volkes für das Konzert der Stipendiat*innen an der Musikhochschule Lübeck. Durch diesen Anlass ergab sich auch die besondere Besetzung von Violine (Dorothea Schupelius), Klavier (Viktor Soos) und Orgel (Fabian Luchterhand) und Aufstellung der Instrumente in weitem räumlichen Abstand zueinander im großen Saal der Musikhochschule: auf der Orgelempore, der eigentlichen Bühne und linken Seitenempore.
Der Titel entstammt dem Gedicht „Don du poème“ von Stéphane Mallarmé, welches auch dem „Don“ aus „Pli selon Pli“ von Pierre Boulez als Grundlage dient, in dem es heißt „Par qui coule en blancheur sibylline la femme / pour des lèvres que l'air du vierge azur affame?“. Das französische Wort „sibylline“ selbst hat seine etymologischen Wurzeln im sibyllinischen Orakel und bei der Prophetin Sibyll der griechischen Antike und bedeutet in etwa geheimnisvoll, rätselhaft, mysteriös, unergründlich, dunkel oder orakelhaft; diese Umschreibungen sind bezeichnend für die Aura und Art der Komposition selbst.
Das symbolträchtige Wort steht sinnbildlich für den Beginn meiner Arbeit an diesem Stück. Ich hatte mich viel mit dem Symbolismus des Fin de siècle und der Dekadenz des Ästhetizismus auseinander gesetzt und war begeistert von der facettenreichen und ausdrucksstarken Sprache von Schriftstellern wie Oscar Wilde, Arthur Rimbaud, Stefan George, Albert Giraud und dem schon erwähnten Stéphane Mallarmé. Ich hatte mich in meinen Kompositionen bis zu diesem Zeitpunkt sehr oft mit der Abstraktion in Struktur und der Reduktion auf minimalstes Material beschäftigt und wollte nun bewusst ein Stück komponieren, welches einen Schritt in eine andere Richtung ging. Es sollte nun der Ausdruck, das Gefühl im Mittelpunkt stehen. So begann ich damit, unterschiedliche Ausdrucksangaben zu sammeln, Adjektive, die verbunden sind mit starken Symbolen und Gefühlseindrücken. In diesem Schritt zeigt sich schon die erste Symbiose aus einer neuen Interpretation des Symbolismus in Verbindung mit dem Barock und seiner Lehre oder Idiomatik vom Affekt- einer aus der Antike übernommenen Idee, dass sich über eine bewusste musikalische Komposition gewisse Gemütsbewegungen ausdrücken lassen.
Es entstand eine lange Liste aus verschiedensten Affekten, welche ich dann gliederte und reduzierte auf eine Auswahl von 108 Worten, die ich nach drei Oberbegriffen sortierte: Wörter, die verbunden sind mit Assoziationen von warmen Gefühlen für lange melodische Linien (z.B. anmutig, rund, innig, liebevoll), Adjektiven der Energie für akzentuierte Ausbrüche (z.B. impulsiv, brutal, rasend, eruptiv) und Ausdrücken, die die Kälte verkörpern (z.B. frostig, brillant, spröde, eisig). Hier tritt zum ersten Mal meine Beschäftigung mit einer Idee der Kälte in der Musik zum Vorschein, welche im Kapitel #2 ausführlicher betrachtet wird und alle meine Arbeiten im Master nachhaltig beeinflusste.
Ein Blick in die Partitur zeigt, dass jede dieser Angaben nur einmal vorkommt und immer mit einem charakteristischen Motiv verbunden ist, wobei durchaus manche Motive sich bei ähnlichen Ausdruckangaben auch musikalisch ähneln oder Ableitungen und Variationen eines gemeinsamen Ursprungs sind. In der schnellen Abfolge der Gefühle und der kurzen fragmentartigen Gestaltung der einzelnen Elemente oder Bausteine erscheinen diese Affekte nur noch als Punkte; von der Wahrnehmung her betrachtet als musikalische Gesten. Die Geste ist der Kern dieser Idee eines modernen Barock/ Symbolismus. Eine Geste ist verbunden und verwandt mit der Falte, wie sie von Gilles Deleuze in seiner Analyse des Barock oder in der Betrachtung der Kunst von Simon Hantai im „Pliage“ verwendet oder im Werktitel „Pli selon pli“ von Boulez genannt wird, sowie der Glyphe, wie sie in der Kunst von Cy Twombly zu finden ist, dessen Werk zwischen antiker Inspiration und Mythologie, dem Akt des Schreibens und dem eleganten oder energetischen Verzieren pendelt. Über die Glyphe im Bezug auf Cy Twombly schrieb Charles Olson „A glyph is a design or composition which stands in its own space and exists- whether cut in stone or written by brush- both by the act of the plastic imagination which led to its invention in the first place and by the act of its presentation in any case since. Both involved a graphic discipline of the highest order. Simultaneously, the art is “language” because each of these glyphs has meanings arbitrarily assigned to it, denotations and connotations.”.
Die musikalische Geste wiederum folgt eben diesem Prinzip des in die Zeit gesetzten Präsentierens und der vieldeutigen Symbolik des einzelnen Moments oder Punktes. So suchte ich für jede der 108 Ausdrucksangaben ein klangliches Korrelat und stellte diese dann völlig unabhängig voneinander in den Raum, wie spontane expressive Glyphen auf einer weißen oder grauen Leinwand (vergleichbar mit den „Nine Discourses on Commodus“ (1963) von Cy Twombly) oder Falten in den überbordenden Dekorelementen eines barocken Bauwerks. Dieser Arbeitsschritt führte mich letztlich zur besonderen Art der Notation von „sibylline“, einer Form der Space Notation, in welcher die einzelnen Notenblöcke ausgeschnitten und an einem Zeitstrahl entlang ausgerichtet wurden und meist keine präzisen Rhythmen ausnotiert, sondern nur relative Angaben wie „schneller werdend“ oder „so schnell wie möglich“ verwendet wurden. Denn in meiner Analyse der komplexen Musik von Komponisten wie Ferneyhough, Mahnkopf oder Pauset fiel mir auf, wie sich gerade durch den hohen Grad an präziser Notation letzten Endes eine Überforderung der Musiker*innen in der Interpretation und einer Unschärfe in der Wahrnehmung durch das Publikum einstellte. Die Musik wurde gerade dadurch zu einer rein gestischen Musik, bei der nicht entscheidend ist, wie exakt etwas in allen Details festgelegt ist, sondern welchem Profil, welcher Richtung und energetischen Gestalt die Melodien folgen.
Diese Gestalten sind meist verbunden mit einem hohen Grad an Ornamentik und auch für meine Komposition „sibylline“ wollte ich mein musikalisches Material vor allem aus den Formen der Zier und variativen Umspielung gewinnen, wie sie sowohl in den modernen barocken Tendenzen als auch im Barock selbst zu finden sind. Das Barock bezeichnet schon mit dem Namen eben gerade jenen Hang zum Ornament: das krumme, verzerrte, überladene, schwülstige, galante und elegante Spiel steht im Mittelpunkt aller barocken Künste. In meinem Vorstudium zur Komposition von „sibylline“ klassifizierte ich drei charakteristische Typen der musikalischen Ornamentik: Repetition- als statische, beschleunigende, verlangsamende oder freie Form einer zeitlichen Variation; Vorschlag- von unten, von oben oder in Wellenform erfolgende Ausschmückung eines Zieltones (auch vergleichbar mit Pralltriller, Mordent oder Doppelschlag); und den Triller oder das Tremolo- eine Verzierung eines gehaltenen Tones mit einem oder mehreren, gleichmäßig oder unregelmäßig erfolgenden, engen oder weiten Wechsel der Töne. Außerdem definierte ich drei Typen der Linearität einer Geste: als Liegeton oder gehaltene Note, die dann wiederum eingefärbt oder angereichert werden kann; als Punkt oder minimales Fragment in die Zeit gesetzt; oder als Arpeggio gespielt.
Schon hier wird die starke Tripolarität der Komposition deutlich, die von Beginn an durch die Besetzung des Trios angeregt wurde und in der Struktur von „sibylline“ immer wieder Anklang fand. Tripolarität ist auch eine charakteristische Art der Gestaltung im Barock, nicht zuletzt auch aufgrund ideologischer oder religiöser Weltanschauungen. In meinem Stück ist sie zu finden in den drei Typen der Affekte (Kälte, Wärme und Energie), den drei Instrumenten (Violine, Orgel, Klavier), den drei verwendeten Satzarten (Solo, Duo, Trio), den Fokussierungen von drei Registern (mittlere Lage, hohe Lage, sehr hohe Lage), den drei vorherrschenden Dynamiken (sehr leise, mezzo und sehr laut) sowie in den schon genannten Arten der Ornamentik und der zeitlichen Gestaltung.
Das Trio besteht aus zehn Abschnitten: drei davon sind reine Soli der einzelnen Instrumente, jeweils verbunden mit einer spezifischen Art der Ausdrucksangaben [Orgel (Wärme) -> Violine (Kälte) -> Klavier (Energie)], drei sind Duette in den möglichen Kombinationen [Orgel und Klavier -> Orgel und Violine -> Violine und Klavier] und vier Abschnitte sind als Trios mit allen drei Instrumenten komponiert. Diese kombinieren zunächst die drei Ausdruckstypen [Kälte und Energie -> Wärme und Energie -> Kälte und Wärme] und treten im, das Stück beschließenden, Abschnitt nur noch als neun einzelne Punkte mit Ausdrücken der Kälte auf. Wichtig ist zudem, dass die gesamte Musik als eine unendliche melodische Linie komponiert wurde und nicht als ein kammermusikalisches Wechselspiel oder gemeinsames Musizieren. Vielmehr ergänzen sich die Instrumente gegenseitig, spielen ihre einzelnen Gesten in Reaktion aufeinander und bilden so einen Zusammenhang, ohne dass es jemals zu einer Parallelität oder tatsächlich polyphonen Triostruktur kommt. Diese Art der Komposition ist ebenfalls an das Barock mit dem Typus der Monodie angelegt, die die charakteristische Form für den Ursprung der Figurenlehre und Affektlehre darstellt und daher auch für meine Komposition als geeignet erschien.
Das Stück endet nach großen dramatischen Kontrasten und einem dynamischen Wechselbad der Gefühle letztlich mit einem Abschnitt der reinen Kälte; der symbolischen Gestalt, die auch in der Komposition am häufigsten auftritt, nämlich 43 Mal gegenüber den 34 Angaben von Wärme und 31 der Energie zugeordneten Gefühle. „sybilline“ versiegt in einer großen Stille, in die neun isolierte Punkte, die von allen drei Instrumenten solistisch gespielt werden, gesetzt werden. Dadurch führt das Trio schon auratisch ein und weiter in die darauffolgende Komposition: „I miss the cold“.