Und wenn ihnen die Schönheit vorenthalten wird, dann greifen sie eben zum Surrogat, zum Ersatz, zum Kitsch, um ihren Hunger zu stillen.
(Michael Ende)
Schönheit. Ein Begriff, mit dem ich mich lange Zeit nicht beschäftigt, den ich abgelehnt und verdrängt habe, der mich störte, weil er nicht mehr zeitgemäß und spießig erschien, der mich letzten Endes vielleicht auch einfach nur provozierte. Ein Begriff, mit dem ich automatisch Kitsch, Effekthascherei, Scheinheiligkeit, aufgesetzte Show, Gefälligkeit und Normendenken verband. Ein Begriff, der für mich untrennbar verbunden war mit rückwärts gewandten Bewegungen, mit neo und retro Tendenzen und einer konservativen Grundhaltung, als auch auf der anderen Seite mit spirituellem Hokuspokus und verklärt esoterischem, ganzheitlichem und tagträumerischem Zauber. Ein Begriff, der dem romantischen Künstlertum, der Stilisierung von Genies und Glorifizierung von Helden, der intellektuellen Überlegenheit und Zurschaustellung einer besseren und wohlerzogenen Elite, den weltfremden Künstlern in ihren Elfenbeintürmen zu den Göttern emporschwebend und als Transmitter zwischen höheren Sphären und der einfachen, armen Welt fungierend, entstammt.
Meine Beschäftigung mit der Schönheit oder besser gesagt, der Lehre der Schönheit, Ästhetik, entsprang aus der Not heraus. Es war Anfang 2016.Ich hatte vor wenigen Monaten meinen ersten Auftrag vollendet und präsentiert, eine mehrteilige und interdisziplinäre Klanginstallation im Rahmen einer Ausstellung der Galerie Froehlich zu Werken Bruce Naumans und Damien Hirsts. Eine Arbeit, die ich bis heute als meine Beste ansehe, weil sie so genuin eigen und meins war, so einmalig und erfrischend neu und gleichzeitig so intensiv und emotional. Eine Arbeit, die mich in ein großes Loch geworfen hatte. Ich wusste nicht, wie ich in weiteren Werken an „Debris“ anknüpfen oder, von diesem Stück ausgehend, weitergehen könnte. So entstand für eine lange Zeit danach erst einmal gar nichts, außer der Komposition „Sentence“, bei der eine Sängerin eine recht schlichte und unbedeutsame Melodie ohne Text auf Vokalsilbe gesungen auf einer Kassette aufnimmt und dann im Konzert von einem Kassettenrekorder abspielt. Sie selbst hält diesen in den Armen, bleibt aber selbst stumm, öffnet ihren Mund, ohne singen oder sprechen zu können, ist ohnmächtig und betäubt. Sie ist zum Schweigen verurteilt.
Und in dieser Phase der inneren Verzweiflung und Unsicherheit, die in mir herrschte, vermochte es der Zufall, dass ich auf die Ästhetik gestoßen bin und die Konfrontation mit der „Schönheit“ eine neue und andersartige Schaffenszeit in mir ausgelöst hat. Ich war wegen eines Aufnahmegespräches für das Stipendium der Studienstiftung zu Manfred Trojahn nach Düsseldorf gereist. Dieser hatte mir zuvor von einer sehenswerten Retrospektive der Künstlerin Agnes Martin in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen erzählt und mir einen Besuch dort empfohlen. Allerdings viel meine geplante Zugverbindung aus und aufgrund mangelnder Zeit musste ich direkt nach dem Interview wieder abreisen, ohne die Ausstellung gesehen zu haben. Allerdings blieb mir der Name der Künstlerin im Hinterkopf und kurz darauf kaufte ich mir einen großen Katalog zu ihrem Lebenswerk, ihrer Biografie und ihren Gedanken. Allen voran auch ihren Gedanken zur Schönheit. „Beauty is the mystery of life.“ (Agnes Martin). Liest man ihre Notizen aus Skizzenbüchern, ihre Konversationen oder ihre Vorträge, so stößt man immer wieder auf Sätze und Ausführungen zu einem von ihr selbstdefinierten Schönheitsbegriff. Diese machten mich nachdenklich, denn sie ergriffen mich, verwirrten mich und waren auf so persönliche und sinnliche Weise berührend und nachvollziehbar.
Agnes Martin ist eine Ausnahmekünstlerin im wortwörtlichen Sinne des Begriffs. Sie war zunächst Teil der New Yorker Szene um Reinhardt, Rothko und Newman und stand in Verbindung mit dem abstrakten Expressionismus. Dann zog sie, im Alter von vierzig Jahren erstmalig und später dann dauerhaft, an einen zurückgezogenen und vor der Außenwelt verschlossenen Ort in New Mexico, wo sie unabhängig und unbeeinflusst von Markt, Schulen und Moden ihren eigenen Stil und ihre eigene Kunst entwickelte. Sie war ausgeschlossen vom Lärm der großen Städte Amerikas mit ihrem Prunk, ihrer Dekadenz und ihrer Scheinheiligkeit, dem pulsierenden, schillernden und exzessiven Leben und Arbeiten der Pop-Art und Minimal-Art Künstler zu jener Zeit. Stattdessen war sie umgeben von der Natur, wenigen einheimischen Menschen und der endlosen Weite und Stille der Wüste.
Agnes Martin hat mich zum ersten Mal darüber nachdenken lassen, wie ein abstrakter und tiefgründiger Schönheitsbegriff aussehen könnte, unabhängig von Geschmack, Zeitgeist und subjektiver Persönlichkeit. Ich stellte mir die Frage, wie eine Lehre der Schönheit, der Harmonie in den Gesetzen der Kunst und Natur, in der heutigen Zeit noch möglich sein könnte. Ihre Gemälde bestehen aus großen, pastellfarbenen und mit sanften Unregelmäßigkeiten von Hand aufgetragenen Farbflächen, Streifen und Mustern, die teilweise begleitet werden von Gitterstrukturen aus Bleistift, die zum einen eine darüberliegende Ordnung erschaffen, zum anderen auch eine zarte und sanfte Energie, durch die daraus entstehende Binnengliederung, in die ruhigen Farbtöne bringen. Besonders ein Gemälde hat mich damals besonders fasziniert in seiner Schlichtheit und simultanen Stärke: „Untitled #4“ (1997), bestehend aus einem dünnen, milchweißfarbenem, horizontalem Streifen, unter einem etwa doppelt so breiten Streifen aus einem leichten Blauton, in der Mitte einer quadratischen, ansonsten völlig monochrom in einem zartem Hellblau angemalten, Leinwand.
Unter diesem Eindruck entstand im März 2013 meine „Kammermusik I für Agnes Martin“, ein Stück, welches einen Wendepunkt in meiner Arbeit einleitet; den Beginn meiner ausführlichen Beschäftigung mit dem Ästhetizismus, dem „Fin de Siècle“ und der „L’art pour l’art“, meine Studien einer Vielzahl unterschiedlichster moderner Künstler und Maler und die Entwicklung meiner ästhetischen Grundlagen und Techniken, die ich seitdem immer weiter verfeinert und definiert habe. Der abstrakten, zeitlosen und tiefgründigen Schönheit, von der ich träumte, kam ich Stück für Stück näher. Dieser Wandel zeigt sich schon in der Titelgebung. Seit der „Kammermusik I für Agnes Martin“ tragen die meisten meiner Werke keinen Titel mehr, sondern nur noch eine objektive Beschreibung des Ensembles (z.B. Duo, Quintett, Kammermusik) und zusätzlich noch eine Widmung, oder besser gesagt eine anerkennende Verknüpfung mit einer Person, deren Denken und Arbeiten in der Zeit der Entstehung dieser Komposition für mich essenziell und anregend war (darunter einige Künstler z.B. Ellsworth Kelly, Francis Bacon, Agnes Martin). Diese Methode verwende ich, um zum einen den Hörer nicht durch einen subjektiven oder assoziativen Titel schon vor dem eigentlichen Erlebnis abzulenken oder in eine Erwartungshaltung zu drängen, er müsse etwas Spezielles in meinem Stück hören und zum anderen um einen Verweis anzugeben auf andere Menschen, die mich geprägt haben und deren Ideen auch auf abstrakter Ebene eine Rolle für die Konzeption und Konstruktion der Komposition gespielt haben.
Ästhetik, die Lehre von Gesetzen der Harmonie. Für mich ist die tiefste Wurzel der Ästhetik die Relativität aller Dinge. Die Schönheit entsteht dadurch, dass verschiedene Elemente in Relation zueinander gebracht werden, zusammen eine Symbiose und Einheit oder auch Kontraste und Konflikte bilden und dies eben in einer bewussten Art und Weise geschieht, die auf den Grundlagen und Gesetzen unserer Wahrnehmung basieren. Ursprünglich nannte ich diesen Zusammenhang von einzelnen Fragmenten, Atomen, zu einem großen Ganzen, einer Komposition, oder molekularen Struktur (man denke an organisches Wachstum), die „Aura“. Ich fühlte, spürte, sah und wusste, dass da etwas war, das alle Einzelteile miteinander verband und auf abstrakter Ebene eine sinnliche Gesamtheit schuf, hatte aber keine Worte, um es zu beschreiben (was sich in meinen frühen, schwammig formulierten Essays niedergeschlagen hat) und konnte diese Aura auch nicht fachlich greifen und definieren. Ich möchte mich im Folgenden explizit auf die Eigenschaften des Klangs beschränken und die Materialien meiner kompositorischen Arbeit in den Mittelpunkt stellen und analysieren, dabei aber immer wieder Querverweise anbringen, zu Aspekten der bildnerischen Kunst und Malerei.
Alles beginnt mit der Relativität. Akustisch unterscheiden wir zwischen einem Geräusch und einem Ton dadurch, dass eine chaotische Welle einer Periodischen gegenübersteht. Auf dieser Grundlage nehmen wir dann Töne in verschiedenen Tonhöhen zueinander war. Der Einzelton ist somit das kleinste Element und schon in ihm liegen scheinbar unendlich viele Möglichkeiten, unendlich viele Frequenzen, welche unser Gehör wahrnehmen und differenzieren kann, wenn auch vielleicht nicht explizit, da die Frequenzen zu dicht beieinanderliegen oder an den Grenzen unserer Hörbereichs, so doch zumindest unterbewusst. Jede Tonhöhe für sich hat eine bestimmte Wirkung auf uns. Für mich ist jeder Ton, wenn wir jetzt nicht mehr in reinen Frequenzen, sondern zum Beispiel in der temperierten Skala denken, verbunden mit einer bestimmten räumlichen Charakteristik und einer Farbe. So wähle ich oft zentrale Kerntöne für meine Kompositionen aus, um die herum sich die anderen Elemente positionieren oder eine Relativität zu eben diesem Einzelton herstellen.
Es gibt verschiedene Strategien, wie ich in meinen Kompositionen mit einzelnen Tönen umgehe. Die Erste und auch Augenscheinlichste ist, der Orgelpunkt oder, um es neutraler und weniger musiktheoretisch besetzt auszudrücken, der lang gehaltene Ton. Sehr dominant tritt dieser zuerst in meinem Stück „Neuer blauer Planet“ und auch in seiner komplett revidierten Fassung „Neuer blauer Planet II“ für Flöte und Schlagzeug (Temple und Wood Blocks) auf. Damals ging es mir, inspiriert von japanischer Kunst, dem No-Theater, der Musik von Toru Takemitsu und der Architektur von Tadao Ando darum, eine natürliche Reinheit und Kraft in der totalen Reduktion auf den Ursprung, den einzelnen Ton auszudrücken. Die Flöte spielt in „Neuer blauer Planet“ fast durchgehend nur das h‘, ornamentiert es leicht, variiert mit mikrotonalen Abweichungen und Verzierungen, während die Temple Blocks mit virtuosen Ausbrüchen einen kraftvollen und starken Kontrapunkt dazu bilden. Diese Strenge habe ich dann allerdings bewusst aufgegeben und in der neuen Rekomposition der Arbeit, „Neuer blauer Planet II“, darauf geachtet, dynamischer, abwechslungsreicher und dramatischer zu komponieren, um den Orgelpunkt nicht überzustrapazieren.
Denn nicht nur die Dominanz und Häufigkeit eines einzelnen Tones rückt diesen und seine Klanglichkeit als eine Art von Kernton in den Mittelpunkt einer Komposition. Eine weitere von mir verwendete Technik ist, Melodien, oder abstrakter gesagt musikalische Gesten und Figuren, immer von einem Ton aus zu beginnen oder immer auf diesem enden zu lassen, was zur Folge hat, dass ein Gefühl von Ankunft und Abschied erzeugt wird. Auf diesem Prinzip fußt meine Komposition „Duo IV für Charles Koechlin“ für Flöte und Klarinette. Bei diesem Stück ging es mir, in Anlehnung an die von Charles Koechlin entworfene „Art monodique“, darum, mich explizit nur auf melodische und monodische Linien zu beschränken. Beide Instrumente sind bekannt für ihre charakteristische Fähigkeit, lyrische Phrasen zu gestalten und zu präsentieren. Zusätzlich zum Orgelpunkt auf f in der Klarinette zu Beginn des Stücks und später auf fis‘‘‘ in der Flöte, sind die langen Gesänge der Instrumente stets so komponiert, dass sie von einem bestimmten, meist wiederkehrendem Ton, ausgehen und sich entwickeln, um dann wieder zurückzukehren oder, in offener Form, übergehen in die Stille oder einen neuen Abschnitt. So entsteht eine atmende Struktur, stets mit dem Gefühl einer Richtung und gleichzeitigen Verortung und Verbundenheit mit einem bestimmten Kernton, der alles zusammenhält.
Das wohl auffälligste Merkmal dieser Komposition und auch aus spieltechnischer Sicht heikelste und schwierigste, sind die langen Unisonopassagen und im Einklang ausgehaltenen Töne. Das Unisono hebt die Charakteristik eines einelnen Tones noch einmal auf eine sehr spezielle Art hervor. Dies geschieht zum einen dadurch, dass sich die Klangfarben zweier verschiedener Instrumente vereinen, für die der Ton in jeweils einem anderen Register liegt und dadurch unterschiedliche Formanten und Räume im Klang hörbar werden; z.B. das c‘ welches sehr tief für die Flöte ist und dadurch einen eher rauen und diffusen Charakter besitzt, bei der Klarinette jedoch gegenteilig eher dunkel und voll erscheint. Andererseits gibt es viele mikroskopisch kleine Abweichungen in der Frequenz des Tones, durch Ansatz und Luftströmung, durch die Physik des Spielers und des individuellen Instruments und durch die Reaktion des Raumes auf den gespielten Ton, wodurch kein reales und absolutes Unisono erklingt, sondern ein sich stets verändernder, pulsierender oder lebendiger, scheinbarer Einklang.
In „Duo IV“ habe ich dieses Unisonospiel in einem kammermusikalischen Rahmen auf die Spitze getrieben, verwende es aber ebenso auch in meinen Orchesterstücken, vorrangig dem „Triptych for Ellsworth Kelly“. Hier kombiniere ich meist zwei oder drei Instrumente aus verschiedenen Instrumentenfamillien zu einem Unisono, um so teils sehr neuartige und verzerrte Klangfarben zu erreichen. Auffällig ist zum Beispiel die im ersten Satz „Pink and Turquoise“ präsente Instrumentation von Englischhorn mit Solo Cello, welches dazu noch molto sul ponticello zu spielen ist und der Trompete mit cup mute, die zusammen beinahe schon den Eindruck eines alten, analogen Synthesizers erwecken. Oder im zweiten Satz „Purple and Grey“, in welchem die Marimba und Harfe zusammen im Einklang spielen und sich die beiden unterschiedlichen präzisen Anschläge, gezupft und geschlagen, vereinen in einem weichen Nachklang, da sie nicht gedämpft werden, später dann noch erweitert durch Einfärbung mit Piccolo und Bassflöte, sowie Klarinette und Bassklarinette, welche dem Ganzen noch mehr Fülle und Zärtlichkeit geben.
Aber genau in diesem Beispiel wird das Unisono auch schon erweitert um die Ebene eines zweiten Klangs. Wenn man zwei Töne gleichzeitig spielt, erklingen für unser Gehör Intervalle. Diese bilden die nächste Kategorie meiner Überlegungen zur Relativität im Bezug auf die Ästhetik. „Purple and Grey“ ist an sich eine auf eine Minute ausgedehnte Präsentation eines einzigen Intervalls, zwei Töne, aus denen der gesamte Satz besteht; d‘ und e‘ (sowie die Oktaven d‘‘ und e‘‘ sowie d und e). Das erklingende Intervall, die große Sekunde, ist eines, welches einen sehr hohen Stellenwert in meiner Arbeit einnimmt und oft an exponierter Stelle in meinen Kompositionen verankert ist. Und nicht nur die große Sekunde allgemein, sondern ganz im speziellen die Sekunde zwischen d und e gehört für mich zu den schönsten Klängen, weshalb gerade sie auch in mehreren Werken präsent ist. Zum ersten Mal bin ich während der Arbeit an meiner „Kammermusik I“ auf den Klang gestoßen, damals, noch in einem Pendel mit der großen Terz cis und eis gesetzt, im großen Klaviersolo, welches nur aus der Darstellung und Repetition dieser beiden Intervalle bestand.
Ein weiteres zentrales Intervall in meiner Arbeit ist die kleine Sekunde, meist jedoch dargestellt als g7 oder k9. Es handelt sich dabei auch um das Lieblingsintervall der „Neuen“ Musik und eines der am häufigsten in Kompositionen, zur Erschaffung einer scheinbar modernen und zeitgenössischen Note, eingesetzte Intervall. Für mich ist dieses Intervall immer verbunden mit der Unvollkommenheit, einer Störung, einem scheinbaren Fehler. So zum Beispiel in der „Kammermusik I“, wenn das Klavier seine schnellen und virtuosen Einwürfe in einer großen Septparallele spielt und nicht, wie sonst konventionell üblich und zu erwarten, in Oktaven. Die Reibung der kleinen Sekunde, die Anspannung und Schärfe, erzeugt eben genau diesen besonderen Charakter der Verzerrung etwas Altbekannten.
Die Verzerrung einer Technik, die ich selbst in meinen Orchesterstücken oft verwende. Oktavparallelen sind klangfarblich spannender, vielfältiger und reicher an Schattierungen und Variationen, als eine Instrumentation im Unisono. Und so ist das Intervall der Oktave omnipräsent in meiner Komposition „Châtaigne“ auch wenn es hier nicht mehr, oder kaum als Intervall gehört wird, sondern vor allem als Klangfarbe, als eine klangliche Einheit. Auch dies ist wieder eine Frage der Relativität und der Art und Weise, wie wir etwas komponieren, um einen bestimmten Eindruck beim Hörer hervorzurufen. Die gesamte melodische Struktur des letzten Abschnitts des Stücks basiert darauf, Oktaven zwischen zwei Instrumenten parallel zu führen und immer eines davon zu ersetzen durch ein neues, wodurch die Oktave stets in anderer Farbe erklingt. Ein Beispiel hierfür wäre die Abfolge von Fagott und Klarinette, zu Klarinette und Piccolo, Klarinette und Flöte, Flöte und Cello (sul pont.), Cello und Trompete (cup) sowie Fagott, Trompete und Oboe, Oboe und Posaune (cup) und letztendlich Posaune und Englischhorn.
Gehen wir nun von der Parallelverschiebung eines Intervalls noch einen Schritt weiter, erreichen wir den Akkord und den parallel verschobenen Akkord, eine Mixtur.
Mixturen habe ich ebenfalls erstmals in der „Kammermusik I“ verwendet und seitdem sind sie zu einem festen Bestandteil meiner Arbeit geworden. Die aus der Orgelmusik und in der neuen Musik, vor allem der davon inspirierten Musik Messiaens, bekannt gewordene Technik kommt in meinen Werken meist dann zum Einsatz, wenn ich in größeren Besetzungen kurze, fragmentarische Einsätze mehrerer Instrumente in einem rhythmischen Unisono einfüge. So schon in der „Kammermusik I“ die virtuosen Elemente, welche in einer Mixtur angeordnet sind, bei der die Flöte das höchste Instrument einen Tritonus über der großen Sekunde zwischen Oboe und erster Klarinette ist, dann eine große Sexte tiefer die zweite Klarinette in der Mittellage und in der Tiefe, als Fundament, drei Oktaven und eine Quart unterhalb der Flöte das Fagott spielen. Auch hier ist wieder erstaunlich, wie sehr man dieses Gebilde in Form einer Klangfarbe hört, da der melodische Aspekt und die harmonische Parallelführung der Stimmen, bei einer so schnellen Abfolge der Akkorde, charakteristischer sind, als der absolute Aufbau des Akkords. Mixturen geben melodischen Figuren Fülle, Stärke und eine klangliche Eigenheit, sie erweitern eine lineare Bewegung und Entwicklung noch um das vertikale Element einer Schichtung aus Tönen, welche dann, durch eine teils extravagante, wie im Orchesterstück „Châtaigne“, angefertigte Instrumentation, noch spannender und unvorhersehbarer werden kann.
Gibt man einem Akkord ausreichend Zeit und Raum, so tritt sein Aufbau, die Anzahl, Tonhöhe und Lage oder Umkehrung der einzelnen Töne, aus denen er besteht, in den Mittelpunkt. Harmonik bildet einen Schwerpunkt bei meinen ästhetischen Überlegungen und die meisten meiner Kompositionen seit der „Kammermusik I“ basieren auf einem bewussten Spiel mit Akkorden und ihren Variationen und Schattierungen. Meine Ästhetik basiert auf einem abstrakten Umgang mit der Relativität all der bisher genannten Elemente, die als allgemeingültige und für alle Epochen und Stilistiken unabhängigen Materialien angesehen werden können: Ton, Intervall, Akkord und in der Instrumentation eben Unisono, Parallele und Mixtur. Die Kunst entsteht aus dem Umgang mit diesem Grundmaterial, in der Art und Weise, wie man es anordnet, wie man mit diesen Farben komponiert und kreativ tätig wird. Ich verwende hier absichtlich den Begriff der Farben, denn ich möchte nun Vergleiche herstellen mit der Malerei und ihren Techniken, da sie mich in meinen Überlegungen zur Ästhetik intensiv beeinflusst haben.
Farben stehen jedem Menschen zur Verfügung, der malen möchte, ebenso wie die Farben des Klanges für jeden gleichermaßen verfügbar sind, der komponieren möchte. Der entscheidende Schritt ist die Komposition, die Mischung der Farben, die Kontrastierung, das Erzeugen von Übergängen, Ähnlichkeiten und kleinen Abweichungen sowie die Anordnung zu einem Gesamten. Es gibt für mich ganz klar eine favorisierte Art der Gemälde aus historischer Sicht, wenn man die freien, zeitgenössischen Kunstwerke, auf welche ich später zu sprechen komme und die mich stärker faszinieren, als die Kunst vor dem 20. Jahrhundert; das Stillleben. Nicht nur ist die Vielfalt an Unterarten des Stilllebens so unvorstellbar reichhaltig und flexibel, jedes Objekt, von einer Blume, einem Schweinskopf, einem Blatt Papier bis hin zu einer einfachen Tonvase, lässt sich zu einer Komposition anordnen und in dem Rahmen der Leinwand anbringen, sondern auch die Art und Handschrift, im detailgenauen oder eben nur scheinbar detailgenauen Abzeichnen und Repräsentieren der Objekte, macht diese Form zu einer der mannigfaltigsten und kunstvollsten der Kunstgeschichte.
Stillleben sind Darstellungen von Kompositionen aus toten oder reg- und leblosen Objekten. Wie in der Musik werden hier abstrakte Elemente miteinander verbunden und vereint, die dann über ihre absoluten Eigenschaften hinaus ein Zwischenspiel entwickeln, dass für uns assoziativ und sinnlich intensiv sein kann. Dabei sind für mich zwei Züge entscheidend, welche zu zwei Schlagwörtern in meinem Vokabular der Ästhetik, oder genauer gesagt meiner ästhetischen Grundeinstellung und Wertkategorien, wurden: „Purity“ und „Clarity“. Purity bedeutet Reinheit (eben gerade auch Farbreinheit) oder Anschaulichkeit und bezieht sich für mich auf die Wahl meiner Farben, darauf, dass ich reine, klar definierte und monochrome Farben Verschwommenen, Diffusen und Unreinen gegenüber bevorzuge. Clarity bedeutet Klarheit, Übersichtlichkeit oder auch Deutlichkeit und bezieht sich für mich auf den Umgang mit den Farben, dass ich sehr viel reduziere, einzelne Farbkombinationen bevorzuge und klare Übergänge oder Kontraste komponiere, anstatt lange und schwammige Entwicklungen in dekadenter Überfülle, wie sie zum Beispiel für die spätromantische Musik charakteristisch sind. In der Malerei der Stillleben findet sich dieses Konzept Purity und Clarity auf besondere Art und Weise und extrem intensiviert in der Nüchternheit und Unaufdringlichkeit der Stillleben von Porzellangefäßen des Künstlers Giorgio Morandi wieder.
Kommen wir nun zurück zu Agnes Martin und den Anfängen meiner ästhetischen Überlegungen. Ihre Arbeiten waren ausschlaggebend für die Formierung meiner Grundsätze von Purity und Clarity. Nicht nur ihre Gedanken und Schriften zur Suche nach Schönheit, zur Aufgabe eines egozentrischen Gestaltungswillens zu Gunsten der Inspiration und inspirierten Arbeit, sondern vor allem auch die sinnliche Wirkung ihrer weiten Flächen aus sanften und distanzierten Farben, meist nur ein bis drei verschiedenen in einem Gemälde, waren für mich zutiefst bewegend. Ich fühlte mich zum ersten Mal wirklich ästhetisch verbunden mit den Werken eines anderen Menschen, etwas, dass ich in der Musik noch bis zum heutigen Tag vermisse, habe ich dort keinen Komponisten, von dem ich sagen würde, dass ich an ihn anknüpfe oder mich in einer Tradition mit seiner Arbeit sehe, ihn als Vorbild betrachte. Meine Wurzeln liegen außerhalb der Musik und die ästhetischen vorrangig in der bildenden Kunst.
„Untitled #4“. Eine weite, monochrome Ebene, einem sanften Himmel gleichend und darauf ein dünner und schmaler Horizont aus zwei sich berührenden Schichten. Die Relativität aus Weite und Enge und die Kontraste zwischen zwei Farben (milchweiß und leichtem Blau) im Verhältnis zur monotonen Grundierung. Ich hatte den Entschluss gefasst, eine Komposition zu schreiben, die nur auf zwei Akkorden basiert, auf der Harmonie eines ewigen Pendels, welches scheinbar immer gleich ist und doch auch immer anders. Die „Kammermusik I“ ist daraus entstanden. Ein Stück, welches im Großen und Ganzen nur aus dem Pendel zweier Akkorde besteht, die dabei immer leicht verändert werden, in der Instrumentation, in der Rhythmik, Artikulation oder Dynamik. Es war eine Herausforderung aber gleichzeitig war es auch eine der Kompositionen, die ich am schnellsten und lebendigsten schrieb. Ich war damals so begeistert von diesem Spiel mit der neu entdeckten und zuvor verloren geglaubten Schönheit, die mir diese beiden Harmonien zu bieten hatten.
In meiner Suche nach reizvollen Akkorden und neuartigen Farben, die für mich jedoch auch meinem Ideal einer abstrakten und neutralen Schönheit entsprachen, bin ich auf ein Akkordprinzip gestoßen, welches mittlerweile zur Grundlage meiner harmonischen Sprache geworden ist: den Clusterklang und dazugehörig den relativen Ton. Die Komposition „Solitaire“, ein Quintett für Gitarre, Oboe, Klarinette, Violine und Cello, ist eine Arbeit, bei der ich ganz explizit die Vielfalt und klangliche Eigenart des Clusterklangs und der relativen Töne ausgetestet und ausgenutzt habe. Zunächst einmal zur Definition dessen, was ich unter diesem Wortpaar verstehe. In der „Kammermusik I“ wählte ich das Paar der beiden Akkorde noch völlig frei und subjektiv aus. Dann erkannte ich im Studium, dass mich vor allem Klänge reizen, in denen mehrere Töne im Abstand einer kleinen Sekunde, also einem kleinen Cluster, zueinander liegen oder mehrere kleine Clustergruppen in der Harmonie enthalten sind. Diese Clusterklänge sind zunächst jedoch recht belanglos und banal, entscheidend sind die damit verbundenen relativen Töne oder der relative Ton. Meine Harmonien bestehen also zum Großteil einem Clusterklang mit zusätzlich hinzugefügten Tönen, die einen größeren Abstand zu diesem Cluster aufweisen, meist k3 oder g3. Diese relativen Töne geben dem Akkord ihre Eigenart und klangliche Besonderheit, sie machen den Charakter aus, während die Anzahl der Töne im Cluster stärkeren Einfluss nimmt auf die Fülle und das Volumen des Klangs.
„Solitaire“, eine Arbeit, die nach dem Besuch der Ausstellung „Irrkunst“ von Edmund de Waal, entstand, besteht nur noch aus einem Akkord. Edmund de Waal ist ein britischer Porzellankünstler, dessen Installationen aus Regalen, Schränken und Brettern unterschiedlicher Form und Farbe bestehen, auf welchen er dann seine bescheidenen, unvollkommenen und unendlich ruhenden Gefäße aus Porzellan anordnet. Am beeindruckendsten war für mich seine Arbeit „Suddelbücher I-V“, welche aus fünf schlichten, weißen Rahmen bestehen, die horizontal nebeneinander in einem gleichmäßigen Abstand angeordnet sind und gefüllt werden mit Assemblagen aus hohen, schlanken, röhrenförmigen Gefäßen und kleinen Tellern oder Untertassen aus Porzellan in unterschiedlicher Anzahl und Anordnung, welche in einem leicht blau-grau-grünem Seladonton glasiert wurden. Dennoch wirken alle fünf Kunstwerke wie eine Einheit, fünf Seiten ein und desselben Buches, sie bilden eine ruhige und meditative Reihe und trotzdem besitzen sie eine innenliegende und nüchterne Energie in den feinen Details und Unterschieden, den Imperfektionen und Spannungen in der Anordnung.
Bei dem „Solitaire“-Akkord handelt sich um ein fünftöniges Cluster mit dem Mittelpunkt des Tones es, also die Tonhöhen cis, d, es, e und f. Das es, die Symmetrieachse, bleibt der Gitarre vorenthalten, bis zur Mitte und Spiegelachse der Komposition, an welcher die anderen vier Instrumente im Unisono einmal das es spielen. Die anderen vier Tonhöhen werden im ersten Teil, in jeweils einer anderen Oktavlage, von Oboe, Klarinette, Violine und Cello in allen 12 Kombinationsmöglichkeiten gespielt und nach der Mitte in umgekehrter Reihenfolge noch einmal wiederholt. Der Tonvorrat der Harmonie, der Clusterklang, bleibt somit durch das gesamte Stück gleich, es ändert sich nur seine Umkehrung. Entscheidend sind nun jedoch die relativen Töne, welche in Beziehung zu diesem Kernakkord gebracht werden und ihn jedes Mal aufs Neue in eine andere Perspektive rücken, aus einem anderen Blickwinkel erscheinen lassen. Nach jeder Umkehrung des Clusterakkords spielt die Gitarre direkt anschließend, in den Nachklang hinein, einen Ton aus einer Reihe des gesamten Tonvorrats, sodass sich auch hier zwölf verschiedene Kombinationen ergeben. Im ersten Teil geschieht dies in höchster Lage der Gitarre, noch klanglich durch die Verwendung des Flageoletts eingefärbt, im zweiten Teil in der tiefsten Lage, artikuliert im sffz und akzentuiert gezupft.
Umkehrungen oder neutraler ausgedrückt Permutationen, können den Klang jedoch auch radikaler verwandeln, wenn man sie zudem auch klanglich in extreme Register verschiebt und von der Instrumentation variiert. Ein solches Beispiel ist im dritten Satz des „Triptych for Ellsworth Kelly“ zu finden „III. Orange and Green“. Die Komposition besteht aus drei Teilen, welche unterbrochen werden von zwei Zwischenspielen. Während die Zwischenspiele vor allem melodisch gedacht sind, Harmonien werden hier also nicht vertikal als Akkord gespielt, sondern linear in die Zeit projektiert, sind die drei Hauptteile formal eine langsam von der höchsten Höhe in die tiefste Tiefe absteigende Harmoniefolge. Entscheidend ist hier, dass es sich um eine Akkordfolge handelt, welche in jedem der drei Abschnitte, wenn auch am Ende verkürzt, wiederkehrt, allerdings in einem anderen Register und zudem noch in einer anderen Umkehrung. Im zweiten Teil werden die Harmonien so umgekehrt, dass im Vergleich zum ersten Teil die beiden höchsten Töne zu den Tiefsten werden und die Tiefsten des ersten Teils zu den Höchsten. Die erste und dritte Abfolge sind so in ein Verhältnis gebracht, dass in jedem Akkord der höchste Ton zum Tiefsten wird und der Tiefste zum Höchsten, wobei die mittleren ihre Position beibehalten. So kehrt auch in den Harmoniefolgen der prozessuale Charakter einer Negation ins Gegenteil wieder, über den Mittelpunkt im zweiten Teil hindurch.
Noch stärkere Variationen und Veränderungen in der harmonischen Farbschattierung erhält man dadurch, die Permutation nicht nur als schlichte Veränderung in der Schichtung der Töne innerhalb eines Akkordes zu verwenden, sondern diese Technik kombiniert mit einem weitern Verfahren der Verfremdung. Wenn man die Tonhöhen nicht mehr fixiert, sondern nur noch das Rahmenintervall, welches für den Klangeindruck und zur Identifikation einer Harmonie zunächst einmal das Entscheidendste ist, erhält, kann man sehr starke farbliche Vielfalt erreichen, indem man die Töne dazwischen verändert. Um Zusammenhänge zu schaffen, zwischen einer Reihe von Akkorden und zum anderen neue Klänge zu erzielen, kann man eine Permutation der Binnenintervalle anwenden. Hierbei werden nicht mehr die Tonhöhen anders angeordnet, sondern die Intervalle zwischen den Tonhöhen, wodurch man eine Harmonie erhält die aus anderen Tonhöhen aufgebaut ist, jedoch die selben Intervalle und vor allem dasselbe Rahmenintervall beinhaltet und dadurch klanglich mit dem Ausgangsakkord verwandt ist. Dieses Prinzip habe ich vor allem in meinem „Quintett II“ für Sopran, zwei Klaviere und zwei Schlagzeuger angewendet.
Betrachtet man in diesem Stück die Akkordfolge in den Klavieren, welche als brutal dröhnende ffff-Tremoli gespielt werden, so sieht man, dass hier ein Intervallpermutationsprinzip vorliegt. Zusätzlich wird das Intervall in der Mitte, zwischen rechter und linker Hand (die untersten bzw. obersten vier Töne), mit jedem Akkord um eine kleine Sekunde größer, wodurch sich der Akkord immer weiter spreizt und mehr Raum einnimmt, da sich das Rahmenintervall um eben diesen Halbtonschritt vergrößert. Zusätzlich wird der Akkord mit jedem Schritt noch eine g2 nach oben transponiert. In der Tabelle wird lediglich die Harmoniefolge des ersten Klaviers angegeben, Piano II spielt eine exakte Spiegelung der Harmonien um es‘.Das Permutationsmuster kann auf sechs Akkorde in einer Folge ausgeübt werden, der Siebte würde dann wieder der Intervallreihung des Ersten entsprechen.
„Nr.“ gibt jedem Intervall einen Nummernwert, um ihn in der Permutation „P.“ wiederzuerkennen. „l-r“ bezeichnet den Wechsel zwischen linker und rechter Hand, stets um eine k2 vergrößert.
Eine letzte Technik, die charakteristisch für meine Ästhetik der Purity und Clarity ist und welche ich erstmals in meinem „Orchesterstück I für Paul Burmeister“ verwendet habe, ist der „Choral“.
„I dream of chorales which would be meditations on man’s suffering, of acts of compassion, of signs of hope, and songs of victory and enthusiasm. We need these very badly in this century of inhuman violence.” (Charles Koechlin)
Zunächst einmal muss die Frage geklärt werden, was ich unter einem Choral verstehe, da es verschiedene Arten von Chorälen und verschiedene Ansätze des Umgangs, ihrer Praxis und Deutung ihres Ausdrucks gibt. Um einen Choral zu definieren, benötigt es erneut der Relativität. Der Choralgesang ist ursprünglich das dem Figuralgesang oder der Figuralmusik gegenüberstehende Gegenteil und beistehende Paar in der Einheit sakraler Musik. Es geht in einem Choral nicht über melodische Verzierungen oder kontrapunktisch ausgestaltete Linien, sondern um den reinen, einstimmigen Gesang, üblicherweise eines gregorianischen Chorals. Dieser Begriff hat sich in den letzten Jahrhunderten gewandelt und gerade in der Arbeit von Charles Koechlin zeigen sich neue und charakteristische Wesenszüge des Chorals. In seiner Auffassung geht es vor allem um die ruhige und einfache Rhythmik, homophone Schreibweise und eine ganz besondere Melodiebewegung, gerade dann, wenn der Choral nicht mehr nur einstimmig aufgefasst wird, sondern als mehrstimmiger Satz mit Choralstimme und harmonischer Begleitstimmen, wie vor allem in der Tradition des Protestantismus. Und dieses letzte Charakteristikum ist aus ästhetischer Sicht das Entscheidende. Denn was die farbliche Besonderheit und meditative Stärke und Ausdruckskraft, welche Koechlin dem Choral attestiert, erzeugt, ist die Stimmführung in einer Harmoniefolge eines Choralsatzes.
In einem Choral geht es erneut um Purity, da jede Harmonie eine starke, wenn man so will sakrale, Kraft in sich trägt und andererseits um Clarity, da die Abfolge der Harmonien in einem ruhigen Rhythmus und bei behutsamer Stimmführung im homophonen Satz völlig im Mittelpunkt steht. So wird nicht von der den Akkorden immanenten Schönheit abgelenkt. Während im „Orchesterstück I“ auch die assoziative Ebene der Kirchenmusik, eines Klagelieds, einer religiösen Aura entscheidend ist, als Choralintroduktion für das Stück auf einen Text von Bertolt Brecht, indem es um die Nachkriegszeit und um die traumatische Erfahrung des Kriegs geht, welche auch im Aquarellschaffen von Paul Burmeister präsent ist, geht es in den folgenden Verwendungen des Chorals in meinen Arbeiten nur noch um die klangliche Qualität und Stärke der Chorals, in der Präsentation einer Harmonik. So finden sich auch in meinen weitern zwei Orchesterstücken Choräle, in „I. Pink and Turquoise“ aus dem „Triptych“ und in „Châtaigne“ und auch im „Duo III für Charles Koechlin“ klingt der Choral und seine besondere Stimmführung an.
So erscheint in „Châtaigne“ dreimal ein Choral, zunächst in einem Blechsatz, erweitert um Bassflöte, Fagott und Marimba, dann in engster Lage als Umkehrung im mittleren Register gespielt von Oboen und Trompeten und Flügelhorn, welche erweitert werden um Klarinette, Bassklarinette und die Celli und abschließend in fast gespiegelter Form im hohen Register, gespielt von den Streichern mit Einfärbung durch gestimmte Schlaginstrumente. Man erkennt, die Permutationstechnik ist dieselbe, wie in „III. Orange and Green“. Diese Abschnitte bilden in der Gesamtanlage der Komposition immer wieder einen Ruhepunkt, einen Moment der Andacht, der gefüllt ist mit dem Raum der Harmonik, der Farbe des Klangs und der zarten und behutsamen Stimmführung. Gerade an diesen Punkten wird das Stück besonders intensiv, emotional und zu tiefst menschlich, es wird nahbar und kommt auf uns zu, ist trotz aller Abstraktion, Weltfremde und Künstlichkeit plötzlich, wie ein geliebter und erhoffter Gesang. Der Choral besitzt diese Stärke, er ist eine Technik, die man mit Bedacht einsetzen muss, denn sie bringt eine Verantwortung mit sich, sie kann nicht beliebig und willkürlich positioniert werden.
Letzten Endes geht es bei allen Überlegungen zur Ästhetik und den Techniken zur Anwendung in der Komposition immer, um ein bewusstes Spiel mit den Räumen und Farben der Musik, mit Licht und Schatten. Ich habe mich in diesem Essay bewusst auf die Behandlung von Tonhöhen und die Instrumentation beschränkt, selbstverständlich sind alle anderen Parameter auch Teil der Ästhetik eines Musikstückes, ihnen werde ich mich gesondert in den anderen Kapiteln widmen. Doch noch einmal sei auf die Instrumentation eingegangen und die Rolle, welche sie in meiner Arbeit spielt.
Die Instrumentation lässt sich vergleichen mit der Bedeutung des Lichts in der Malerei. Ich bin ein Freund der Kunst, die reich an Licht ist, an Schattierungen und Atmosphären, weshalb auch das Aquarell für mich die ästhetisch reizvollste Maltechnik ist. Kombiniert man nun das Aquarell, als Kunst der zarten Übergänge, der weichen Farbe, durch die das Licht hindurchscheint, die weiße Struktur des Untergrundes dem gesamten Gemälde Tiefe und gleichzeitig eine gewisse Fragilität verleiht, mit dem Stillleben, als der Kunst der Anordnung und Komposition von Objekten, so stößt man unweigerlich auf die Arbeit von Paul Cézanne. Nicht nur ist er einer der wenigen Künstler vor der zeitgenössischen Kunst, welcher mich wirklich begeistert und fasziniert, noch dazu ist er der Großmeister, und dahin gehend auch Außenseiter und Alleingänger, der Stillleben aus Aquarell.
Seine Gemälde lassen mich träumen, träumen von neuen Konzepten der Schönheit und neuen Formen der Instrumentalmusik. Ich habe in den letzten vier Jahren vier groß besetzte Werke geschrieben, in welchen von Stück zu Stück die Rolle und Bedeutung und Stärke meiner Instrumentation zugenommen hat und ich nach und nach versucht habe, diesem Ideal einer leichten, hellen, vielseitigen und sensiblen Klanggebung näher zu kommen. In der „Kammermusik I“ geschah dies rein intuitiv, ich beschränkte mich auf wenige, recht simple und meist in den Instrumentalfamilien verweilende Kombinationen von Instrumenten, da hier vor allem die Schönheit der Harmoniefarben noch mein Denken dominierte. Mein erstes Orchesterstück wurde dann zu einem Symbol meiner Unreife, meines Scheiterns an den Anforderungen und Herausforderungen, welche ein Orchesterapparat und seine unbegrenzten Möglichkeiten zu bieten hat. Mit „Triptych for Ellsworth Kelly“ gelang es mir dann zum ersten Mal, spannende Instrumentationen zu entdecken, die ich aber vor allem isoliert präsentierte und alle drei Teile des Stücks in einem sehr geschlossenen und monochromen Charakter hielt.
Erst mit meiner neuesten Komposition „Châtaigne“ ist es mir wirklich gelungen, mit der Instrumentation das zu erreichen, was ich mir auch in meinen Träumen vorgestellt habe, eine Instrumentation des Lichts. Ich habe viele Komponisten studiert, die für mich so etwas Ähnliches umgesetzt haben, Boulez, Dutilleux, Carter, Poppe, usw. Und ich habe erkannt, dass die Instrumentation auch am Anfang eines Kompositionsprozesses stehen kann, dass meine Vorstellungen von Licht und Schatten, von den Räumlichkeiten und Farbverläufen, die sich damit kreieren lassen, ein ganzes Werk anzuregen und zu strukturieren vermag. So, wie ich in der „Kammermusik I“ ein Stück nur aus den Harmonien entworfen habe, habe ich die ersten Monate der Komposition an „Châtaigne“ nur damit verbracht, Instrumentalkombinationen zu sammeln, zu sortieren und zu verstehen. Erst dann habe ich mich anderen musikalischen Parametern gewidmet und die gesamte Struktur und Gestalt des Stücks anhand der von mir vorhergedachten Instrumentation entwickelt und auskomponiert.
„I dream sonically“ (Paula Fairfield). Schönheit ist immer verbunden mit der sinnlichen Erfahrung von etwas ästhetisch Reizvollem. Träumen bedeutet, sich diesen Reizen völlig auszusetzen, sich von ihnen bewegen und anregen zu lassen. Ästhetik basiert auf den einfachen Grundlagen der zur Verfügung stehenden Materialien und Techniken und darauf aufbauend ist eine abstrakte und authentische Schönheit auch noch in der heutigen Zeit möglich. Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt, und im traumhaften Spiel mit den Elementen, in der Komposition und Ausgestaltung, können wir diese Schönheit erreichen und immer wieder erneuern. Die Beschäftigung mit der Ästhetik ist nicht veraltet, es wurde noch nicht alles gesagt und noch nicht alles ausprobiert, die Sehnsucht nach ihr ist immer noch eine der Grundeigenschaften unserer menschlichen Sinnlichkeit. Man sollte die Chance nicht verdrängen, die darin verborgen liegt, nur um fortschrittlich, zeitgemäß oder extravagant zu sein. Denn wenn man bescheiden und ohne persönliche Ansprüche und den Drang nach Selbstverwirklichung anfängt zu hören, zu sehen, zu riechen, zu lesen, zu schmecken, zu fühlen, dann wird man auch immer weiter träumen können und immer wieder neue Werke erschaffen können, die erfüllt sind von einer unbeschreiblichen Schönheit.