A hero is someone who does something for his entire life whilst knowing that he will never get any credit for it.
(Iggy Lond Malmborg)
Vor acht Jahren (2010) entschied ich mich dazu, Komponist für Filmmusik zu werden. Vor sieben Jahren (2011) begann ich damit, aktiv zu komponieren und mich mit Musik zu beschäftigen. Vor sechs Jahren (2013) beschloss ich, ein Kompositionsstudium anzustreben. Vor fünf Jahren (2013) erlebte ich mein erstes Konzert mit zeitgenössischer Musik. Vor vier Jahren (2014) schrieb ich mich an der Musikhochschule Lübeck ein. Vor drei Jahren (2015) wurde zum ersten Mal eine Komposition von mir öffentlich aufgeführt. Vor zwei Jahren (2016) erhielt ich meinen ersten Preis für eine meiner Arbeiten. Letztes Jahr (2017) hatte ich meinen ersten großen und längeren Auslandsaufenthalt. Dieses Jahr (2018) beendete ich mein Bachelorstudium.
Nun stehe ich hier, zwischen Tür und Angel und sehe mich mit meiner Vergangenheit konfrontiert, mit all den Dingen, die so schnell und so unerwartet in den letzten Jahren geschehen sind und blicke gleichzeitig in die Zukunft, von der ich nicht weiß, was sie mir bringen und wohin sie mich führen wird. Viel habe ich erlebt, viel habe ich gelernt, viel habe ich gearbeitet, gefühlt, geschrieben und gesprochen. Viel habe ich gesucht.
Vor dreiundzwanzig Jahren (1995) bin ich auf die Welt gekommen. Vor zweiundzwanzig Jahren (1996) wurde ich getauft. Vor einundzwanzig Jahren (1997) habe ich laufen gelernt. Vor zwanzig Jahren (1998) kam mein Bruder zur Welt. Vor neunzehn Jahren (1999) war es mein Ziel, eines Tages ein Koch zu werden. Vor achtzehn Jahren (2000) war ich zum ersten Mal weit verreist. Vor siebzehn Jahren (2001) empfand ich zum ersten Mal bewussten Weltschmerz. Vor sechzehn Jahren (2002) wurde ich eingeschult. Vor fünfzehn Jahren (2003) begann ich damit, eigene Geschichten aufzuschreiben. Vor vierzehn Jahren (2004) erhielt ich meinen ersten Trompetenunterricht. Vor dreizehn Jahren (2005) drehte ich meinen ersten Film. Vor zwölf Jahren (2006) druckte ich mein erstes Buch. Vor elf Jahren (2007) präsentierte ich meinen ersten Song auf einer Bühne. Vor zehn Jahren (2008) veränderte sich alles in mir. Vor neun Jahren (2009) ließ ich mir die Haare lang wachsen.
Diese Auflistung ist chaotisch, sie ist verwirrend, sie ist unvollständig, sie ist nicht aussagekräftig, sie ist belanglos und doch ist sie existent. Sie ist eine chronologische Anordnung kleiner Details in meinem Leben, die mich geprägt und verändert haben. Sie zeigt, wie alles in meiner Kindheit begonnen hat und mich seit dem bis heute begleitet. Wenn ich zurückschaue, dann muss ich bis an die Anfänge zurückgehen. Um die Frage zu beantworten, wer ich bin, muss ich mir auch die Frage stellen, wer ich war. Wenn ich den Versuch unternehmen will, mich selbst zu analysieren und zu beschreiben, dann muss ich auch das Risiko eingehen, dass daraus ein Essay entsteht, der persönlich, subjektiv und polemisch ist. Auch bei meiner Kunst entsteht dieser Essay nicht daraus, dass ich irgendetwas aussagen möchte, sondern aus der Manie heraus, dass ich es einfach nicht lassen kann, dass es für mich notwendig ist, auch wenn sich dies von Außen nicht nachvollziehen lässt.
Schon als Kind war ich immer angetrieben von einer in mir liegenden Kreativität. Ich bin in einem kleinen Dorf aufgewachsen, ohne einen Computer, eine Konsole oder viel Zugang zum Fernsehen. Ich habe eine Kindheit erlebt, in der ich mir alles selbst aufbauen konnte und durfte, in der ich von wenig umgeben und immer irgendwie ein Außenseiter war und dadurch die Freiheit hatte, in einer eigenen Fantasiewelt zu leben. Alles habe ich mir damals zu eigen gemacht, alles, das mir neu und unerklärlich war, wurde zum Objekt meines Interesses, meine Faszination für das Unbekannte und Andersartige erhielt in mir die Aufgewecktheit und Offenheit, für welche ich als Kind bekannt war und nach welcher ich mich heute manchmal sehne. Ich habe Lieder getextet, mit meinem Kassettenrekorder Hörspiele aufgenommen, kleine Theaterstücke aufgeführt, Musicals entworfen und ausgeführt, Drehbücher geschrieben und Filme produziert, Läden gegründet und Erwerbsstrategien entworfen, gedichtet und Geschichten erzählt, Spiele erfunden und über mehrere Jahre hinweg eine zweite Parallelwelt auf Papier gestaltet, mit ihrer eigenen Geschichte, Politik, Ökonomie und Gesellschaft.
Dann, als alles anders wurde, wurde es mir peinlich, was ich früher gemacht hatte. Dieser Prozess ist verständlich, man wächst und reift, man verändert sich und wird erfahrener und plötzlich erscheint alles, was man in seinen Anfängen erschaffen und an was man sich mühevoll abgearbeitet hatte, nichtig und lächerlich. Denn ich war grün hinter den Ohren, ich wollte alles und wusste doch nicht wie, ich war besessen und begeistert und beschäftigte mich doch nur mit kindischen Dingen. Ich war vielleicht anders, als die meisten in meinem Dorf, oder aber, das Dorf war zu klein für mich.
Heute, mehrere hundert Kilometer auf Distanz und mit dem Staub von mehr als einem Jahrzehnt darauf liegend, kann ich es mir erlauben, diesen Dingen meiner Kindheit erneut ins Auge zu sehen, ohne, dass ich beschämt und verängstigt werde. Heute kann ich erkennen, dass darin die Wurzel gegründet liegt, auf deren Basis ich heute lebe und arbeite, dass ich damals die Experimente und Versuche ausgeführt habe, die mich heute bestärken und auszeichnen. Denn so klein das Dorf auch war, eines hatte ich als Kind in unendlicher Menge: Zeit. Eine Handschrift kann nur entstehen, wenn man viel und unermüdlich schreibt. Ein Charakter kann nur entstehen, wenn man viel und unermüdlich sucht. Und wenn man der Hand und der Persönlichkeit Zeit gibt, um zu wachsen, zu reifen, zu scheitern, zu fallen, wieder aufzustehen, um frei und unabhängig zu werden, kann man viel erreichen. Heute, da ich vor einem neuen Lebensabschnitt stehe und einen anderen abgeschlossen habe, da ich mich selbst infrage stelle, verunsichert bin, nicht weiß wofür, warum und wozu ich diesen Weg weitergehen soll, da ich umgeben bin von Erwartungen und Herausforderungen an mich und meine Leistungsfähigkeit, Dinge erreicht habe, auf denen ich aufbauen muss, damit sie nicht wieder in sich einstürzen; heute ist es wichtig, dass ich mir eines bewusst mache: ich darf diesen Geist nicht verlieren, diese Aufgewecktheit, Lebendigkeit, Offenheit, Besessenheit, Wachsamkeit, ich darf nicht aufhören, zu suchen.
„To fix something that is not broken“ wurde zu meiner Grundhaltung. Ich möchte nicht in Gewohnheiten, Verhaltensmustern, Konventionen, Normen oder Stilen stecken bleiben oder mir darin Sicherheit suchen. Ich möchte immer wieder alles infrage stellen, auch wenn es gut ist, auch wenn es funktioniert, auch wenn ich damit Erfolg hatte. Denn für mich ist es wichtiger, immer wieder neu anzufangen, aufzubrechen und umzudenken, die Perspektive zu wechseln und andere Möglichkeiten in Betracht zu ziehen, stets hinein in das schwarze Loch zu gehen. Das Neue ist niemals wirklich neu, denn es ist eingebunden in ein Geflecht aus Bezügen, Beeinflussungen und Bereicherungen durch andere Menschen, andere Arbeiten und andere Gedanken. Eine Blume kann nicht ohne eine Wurzel wachsen. Aber es gibt für uns Menschen noch immer eine unvorstellbar große Zahl an neuen und noch nicht entdeckten Blumen und dasselbe gilt für die Künste. Es gibt das Neue in der Kunst, es gibt Veränderungen und Entwicklungen, nur entstehen diese meist seltener in radikalen Revolutionen und großen Avantgarde-Bewegungen, als es von der Elite der Kunstszene dargestellt und plakatiert wird. Ich möchte nun in diesem ersten Abschnitt meiner Selbstbeobachtung und Selbstbetrachtung auf den Entstehungsprozess meiner Werke eingehen, auf meine Arbeitsweise und Arbeitshaltung, auf die Art, wie ich mich selbst und meine Arbeit ständig erneuere und erweitere. Es soll im folgenden gesamten Essay nur noch um die Arbeit der letzten vier Jahre, während meines Bachelorstudiums, gehen, da ich hier erstmals vollkommen auf die Kunst konzentriert und fokussiert produktiv tätig war.
Ich unterscheide in vier Phasen meiner zyklisch wiederkehrenden Arbeitsschritte: Depression, Studien, Stille, Manie. Diese Phasen sind allerdings nicht chronologisch festgelegt, sie können einander überlagern, sie können ausgelassen werden, sie können wuchern und sich zusammenziehen. Auch kann es sein, da ich meist an mehreren Projekten gleichzeitig arbeite, dass ich mich zur selben Zeit in verschiedenen Stadien in meinem Arbeitsablauf befinde. Allerdings zeigen die letzten vier Jahre, eine gewisse Periodizität in etwa zwei- oder dreimonatigen wiederkehrenden Abfolgen dieser Phasen.
Ich beginne immer bei null. Ich beginne an dem Punkt, an dem ich eine Arbeit abgeschlossen habe. Wie Emil Cioran es so treffend in einem Aphorismus, den ich ohne Probleme auch auf meine persönliche Arbeitseinstellung übertragen kann, formuliert hat, ist eine Arbeit abgeschlossen, „wenn man sie nicht mehr verbessern kann, obgleich man sie unzulänglich und unvollständig findet. Man hat sie dermaßen über, dass man nicht mehr den Mut hat, ihr auch nur einen notwendigen Beistrich hinzuzufügen. Was über den Grad der Vollendung eines Werks entscheidet, ist keineswegs ein Anspruch der Kunst oder der Wahrheit, es ist die Müdigkeit und noch mehr der Ekel.“ (Emil Cioran „Vom Nachteil, geboren zu sein“). An diesem Punkt gibt es nichts mehr als Leere und Ohnmacht, infolge des gefühlten gescheitert Seins, es gibt nur die Verzweiflung über meine Unfähigkeit, das zu erreichen, was ich will, die Perfektion, die Bedeutsamkeit und die Intensität, es gibt nur dieses Gefühl der Nichtigkeit, der Unerfülltheit, der fehlenden Wertschätzung meiner Persönlichkeit und meiner Arbeit, welche ich oft als eine Einheit betrachte. Ich möchte nicht meine Arbeit mit meinem Leben gleichsetzen, sondern sehe es auch wie Paul Valéry, der Produktivität als „das Bestreben, aus dem Vorgegebenen etwas anderes zu machen“ beschreibt und es dann wie folgt erweitert „dass man aus sich selbst einen anderen macht“. An diesem Punkt des Neuanfangs gibt es nur den Wunsch nach Veränderung, nach einem Wechsel der Gefühle, nach einem Ende dieser Depression. Doch für die Dauer dieser Phase überwiegt meist die Bewegungslosigkeit, die Erstarrung, der Stillstand, diese tödliche Lethargie.
Helmut Lachenmann beschreibt den Beginn einer kompositorischen Arbeit immer als ein in das schwarze Loch Hineingehen, diesen Schritt zu wagen, sich davon anziehen und forttreiben zu lassen. Denn nach der Dunkelheit kommt immer auch die nächste Phase, es wird wieder hell und klar. Auf einmal bin ich umgeben von einer farbenfrohen, pulsierenden und überwältigenden Welt, einer Geschichte, die seit Jahrhunderten anhält und sich entwickelt, einer Gesellschaft aus vielfältigsten Menschen und sozialen Gruppierungen, einer Ansammlung von menschlichen Gebilden, Gedanken und Errungenschaften. Ich bin getrieben von dem Wahn eines Sammlers. Ich bin ein Sammler. Und diese Zeit der Studien ist für mich die befriedigendste und glücklichste Phase meines Schaffenszyklus. Denn hier kann ich Universalgelehrter sein, ich kann mich völlig frei und unbehelligt gehen lassen, alles in mich aufsaugen, wie ein Schwamm, ich kann alles erleben, erforschen, ergründen, erfahren und erdenken. In meinen Skizzenbüchern überschlagen sich die Notizen und Eintragungen, ich häufe Objekte, Erinnerungsstücke und Bücher an, gehe auf ausschweifende Spaziergänge, besuche Museen, Konzerte und Vorträge, recherchiere in Archiven und im Internet nach Schriften, Aufzeichnungen und Dokumentationen. Ich beschäftige mich nicht nur mit Musik, genau genommen sogar kaum mit Musik, erst recht nicht mit der „klassischen“ Musik, zu welcher ich noch nie einen richtig tiefen Zugang gefunden habe. Stattdessen lebe ich meine Begeisterung und Freude an anderweitigen Disziplinen aus, der bildenden Kunst, dem Design, der Architektur, der Filmkunst, der Popkultur, der Fotografie, der Theologie, der Philosophie, der Kulinarik, der Literatur, der Poesie, des Theaters, der Wissenschaft, der Mythologie, der Kombinatorik und Kryptografie, der Physik, der Psychologie, usw.
Joël Bons hat mich in einer Masterclass dazu ermutigt und aufgefordert, eben diesen Aspekt meiner Persönlichkeit nicht aufzugeben, sondern wertzuschätzen und zu fördern. Denn in der heutigen Zeit von Fachidiotie, selektiver Wahrnehmung und dekadenter oder elitärer Ignoranz scheinen die alten Universalgelehrten unvorstellbar und einfach schlichtweg nicht mehr vorhanden zu sein. Von Menschen wird erwartet, dass sie sich spezialisieren, dass sie Meister werden in einem Fach, dass sie exzessiv üben und proben, wahre Genies werden, man denke nur an die Stilisierung von „Wunderkindern“, da die heutige Welt so globalisiert, universal und vielschichtig ist, dass es einfach nicht mehr möglich ist, wie Leibniz oder Da Vinci mehrere Fächer auf höchstem Niveau auszuüben. Doch vielleicht liegt gerade hierin auch der entscheidende Fehler unserer konventionellen Erwartungshaltung: dass man immer das scheinbar höchste Level erreichen, immer der Beste werden, immer weiter entwickelter, fortschrittlicher und spezialisierter sein muss. Ich denke jedoch dass es fatal ist, wenn man diese Einstellungen von der Wissenschaft und Technik, in der sie vielleicht durchaus begründet sein mag obwohl sich auch das zu Genüge anzweifeln ließe, auf die Kunst überträgt. Denn in der Kunst bringen Fachidioten keinen Fortschritt. Und dennoch wird in akademischen Institutionen oft allzu sehr diese Inselbegabung gefördert und verherrlicht, das verklärte Genie wird der Entwicklung starker Charaktere zum größten Feind, seine neo-konservative, neo-klassische, neo-idealisierte, neo-ideologische, neo-rückschrittliche, neo-verschulte Grundhaltung gefährdet eine Gleichberechtigung aller Einstellungen und Meinungen, eine Unvoreingenommenheit und Offenheit gegenüber allen Künsten und eine Flexibilität und spielerischen Ideenreichtum der individuellen Person.
Deshalb sind mir dieses Wachstum und dieser Wandel, der initiiert vom schwarzen Loch, welches mich konfrontiert und mir jeden Morgen aufs Neue direkt ins Auge blickt und mich beunruhigend anstarrt, wichtig und der zentrale Aspekt meiner künstlerischen und kreativen Arbeit. Ich baue mir für jedes Stück aufs Neue eine Wunderkammer, in der ich Gefühle, Assoziationen, Erinnerungen, Erlebnisse, Erfahrungen, Hoffnungen, Ideen, Gedanken, usw. ansammle und anhäufe. Und dann ziehe ich mich in diese kleine Kammer zurück, in mein Refugium, meine Heimat, mein genuin eigener Ort, erschaffen nur für dieses Stück, welches langsam in mir zu wachsen und zu reifen beginnt. Ich gehe in gewisser Weise schwanger damit. So lange, bis der Punkt erreicht ist, an dem ich spüre, dass der Sturm langsam aufkommt und sich in mir anbahnt. Dann werde ich ganz still und ruhig und beginne damit, in dieser Wunderkammer alle Dinge zu sortieren, zu katalogisieren, zu organisieren, ich entwickle das große Rhizom aus dem dann hoffentlich, wenn alles gut geht und ich sehe, dass es ein notwendiges Stück Arbeit sein wird, die eigentliche Komposition entstehen wird. Aber zunächst folgt in dieser dritten Phase der Stille das entscheidende „Mapping“. Ich nehme alle gesammelten Elemente und verbinde sie miteinander, entwickle daraus neue Wege und Strategien, versuche unterschiedliche Möglichkeiten aus und bekomme so ein Gespür für das Material, welches ich verwenden möchte, die Struktur und zeitliche Entwicklung, in welcher ich dieses am besten gliedern und präsentieren kann und die eigentliche Komposition in der ich es dann zu sich selbst bringe und zum Leben erwecke.
Für mich ist dies kein mystischer Zauber und auch kein romantischer Geniestreich, die vierte Phase der Manie, die eigentliche Schreibphase einer Komposition, ist vielmehr eine Zeit des Wahnsinns und der Besessenheit. Alle Gedanken, die sich in den Wochen davor angehäuft und in meinem Kopf geschichtet haben, nehmen nun Form an und ich möchte alles so schnell wie möglich fixieren und ausarbeiten. Hier treffe ich nun meine bewussten Entscheidungen, ich gestalte die Arbeit aus, vor allem geleitet von meinem vorgeprägten Unterbewusstsein, welches ich durch das Mapping intensiv vorbereitet und angereichert habe, und lege spielerisch wie bei einer Rätsellösung oder einem Schachproblem alles genauestens fest, so wie es für mich sein soll, so wie es für mich richtig ist, so lange, bis das Stück fertig ist und der Prozess umkippt. Bis ich den Ekel empfinde, der mir signalisiert, dass ich nicht mehr weiter machen kann, nicht mehr weiter machen will, nicht mehr weiter machen soll.
Ich bin ein Mensch, der in der Regel nichts korrigiert oder überarbeitet, da ich meistens dazu neige, alles nur zu verschlimmbessern. Wenn ich nachträglich auf eine Arbeit blicke, selbst mit großer zeitlicher Distanz und emotionalem Abstand, möchte ich meisten alles vernichten, komplett neu machen, umarbeiten oder zerstören. Als Schutzmechanismus vor mir selbst habe ich mir daher schon während meiner Schulzeit, in der ich viel geschrieben habe, angewöhnt, alles beim ersten Mal richtig zu machen, einmal auszuschreiben und dann nicht mehr nachzulesen oder nachzubearbeiten. Alles bleibt authentisch und direkt, mit der Intensität, Fehlerhaftigkeit und Unvollkommenheit des im spontanen Moment Entschiedenen und Gesetzten. Morton Feldman, ein Komponist, mit dessen Gedankenwelt ich mich sehr verbunden fühle, dessen Musik ich allerdings nicht ausstehen kann, hatte eine ähnliche Strategie entwickelt, ein System des nicht korrigieren Könnens, des konzentrierten Schreibens mit, schon beim ersten Anlauf fixierter, Tinte. Danach konnte er nur noch durchstreichen, auslöschen und vernichten. Diese, vom Dilettantismus inspirierte Grundhaltung, ist unangepasst an die Konvention, ohne Eingliederung und Orientierung an vorgegebenen oder selbst erdachten Systemen, sie verhindert auf eine gewisse Weise den Stolz des Egos und den eigennützigen, aber letzen Endes überflüssigen und kitschigen, Ausdruckswillen eines Künstlers. Vielmehr ist für mich wichtig, dass das Material selbst im Mittelpunkt steht, ein Aspekt, auf den ich bei der genauen Betrachtung verschiedener Kompositionen später noch tiefer eingehen werde, dass ich aus dem Material heraus das Stück entwickle und es so festhalte, wie es für mich richtig ist. Deshalb ist auch gerade die dritte Phase des Mappings, der Ruhe vor dem Sturm, so wichtig, weil ich dort alle Grundlagen lege, alle Weichen stelle und meinen Kopf, meinen Geist und meinen Willen, so präge und leite, dass ich dann in der manischen Phase alles am Stück ausschreiben kann.
In diesem Prozess meiner kreativen Tätigkeit werde ich somit ständig beeinflusst und inspiriert, angeregt, von anderen Menschen, anderen Theorien und meiner Umwelt und Umgebung. Ich stehe im ständigen Widerspruch zwischen meiner Sehnsucht nach Ruhe, Stille und Sicherheit, nach einem Ort, an dem ich mich geborgen und zu Hause fühle, nach einem festen Umfeld, klaren Ritualen und Gewohnheiten und der Suche nach ständiger Erneuerung, nach dem Unbekannten, dem noch nie Erlebten und Gesehenen, all den Dingen, die noch im Verborgenen liegen, die nur darauf warten, entdeckt, gedacht und ausgesprochen zu werden. Die letzten vier Jahre waren prall gefüllt an solchen neuen Erfahrungen, von Konzerten, Kursen und Festivals, die ich besucht habe, von den Büchern, Noten und Aufnahmen, die ich in der Bibliothek studiert habe, von den Lehrern, Musikern und Menschen, die ich in den letzten Jahren kennenlernte, mit denen ich mich ausgetauscht habe und von denen ich angeregt wurde, die mir Impulse und Wertschätzung gegeben haben und von all den Orten, an denen ich gelebt habe, durch die ich gegangen bin, an denen ich gewohnt habe. Es sind zu viele Dinge, als dass ich mich an jedes einzelne Detail erinnern könnte, es sind zu viele Dinge, als dass ich sie hier alle auflisten könnte und letzten Endes hat es auch keine Bedeutung, denn egal, ob ich sie bewusst festhalte und niederschreibe oder nicht, ihre Rolle, die sie auf mein Leben und mein Arbeiten gespielt haben, ist unbeschreiblich. Ich möchte mir den Schelm im Gesicht erhalten, das Leuchten in den Augen und den wachsamen Geist, denn dann bin ich empfänglich für all diese kleinen Dinge, die mich wirklich zu dem Menschen machen, der ich bin. Meine Handschrift ist nicht nur meine, es ist ebenso die ihre.
Und so werde ich weitergehen, hinein ins Unbekannte und mit jedem Schritt eröffnen sich neue Wege, jede Tür führt in hundert neue Räume, jeder Traum krümmt sich hinein in eine Unendlichkeit. Denn das bedeutet es, zu wachsen, lebendig zu sein, immer weiter zu suchen. Alles was ich gehört, gelesen, gesehen, geschmeckt, gerochen, getastet und erlebt habe wird ein Teil meiner Erinnerung werden, der großen Palette auf die ich zurückgreifen kann, um kreativ zu werden und mich inspirieren zu lassen, um Entscheidungen zu treffen und etwas zu erschaffen. Denn je mehr ich kenne, desto mehr kann ich Neues entdecken, desto mehr suche ich weiter, desto weniger weiß ich wirklich, desto intensiver, erfüllender und persönlicher wird die Suche. „People can’t create anything truly significant unless they’re happy when they do it.” (Ben Shewry)