Uraufführung: 15.1.2019, Madrigalchor MH Lübeck, Musikhochschule Lübeck zum Possehl-Wettbewer für Neue Musik
Die „Fünf makabren Gesänge“ entstanden für das interdisziplinäre Konzept „Wir sind Staub“ des Madrigalchor Lübeck im Rahmen der Bewerbung für den „1.Possehl-Preis für zeitgenössischer Musik und musikalische Aufführungskonzepte“. Dieses Konzept beschäftigt sich mit dem ältesten Instrument der Menschheit, dem ersten Medium der Kommunikation und Mitteilung von Gefühlen und Gedanken- der Stimme. In verschiedenen Stücken und Situationen werden unterschiedliche Stationen und Arten von Stimmbehandlung aufgezeigt und ein rituelles Gesamtwerk erschaffen, welches dominiert wird von der Menschlichkeit der Stimme und der Energie der Körperlichkeit.
Bei den „Fünf makabren Gesängen“ handelt es sich um fünf kurze Miniaturen für Sprache, die zumeist nur geflüstert und in gebrochener Silbenform auftritt, und Schauspiel, in Form von Bewegungen und Mimik. Die Besetzung ist nicht eindeutig festgeschrieben, die Stücke können in jeder Stimmlage und sowohl solistisch als auch chorisch aufgeführt werden. Alle fünf Arbeiten besitzen eine eigene Struktur und Kompositionsart.
Die Idee der „Fünf makabren Gesänge“ ist es, Störklänge in den Mittelpunkt zu rücken, die sonst ungerne gehört oder häufig überhört werden. Gesang bezeichnet hier nicht einen Belcanto, sondern vielmehr einen natürlichen und intimen akustischen Ausdruck eines Menschen. Die Bewegungen sind nicht choreografiert, sondern stammen aus Erscheinungen von körperlichen Störungen, Spasmen und Krämpfen. Auch durch die Auswahl der fünf Sätze entsteht eine makabre Aura sowie eine starke psychologische Wirkung.
„I. Ich hoffe, er kommt durch“ ist ein Ringen um den Atem, kraftlos, brüchig und gehaucht. Das Zitat stammt von Andy Warhol und ist ein Kommentar über die schwere und tödliche Krankheit eines Freundes. In ihr schwingt die fragile Hoffnung mit, die gleichzeitig auf die Schwäche der Menschen und die Unbarmherzigkeit der Conditio humana hinweist. Andy Warhol, selbst ein stets kränklich aussehender Mensch, ängstlicher Hypochonder und obsessiver Sammler ist auch durch eben dieses Erscheinungsbild, seine Fragilität und Verkrampfung Vorbild und Isnspirationsquelle für diesen Satz.
„II. Und es ist fürchterlich“ ist ein hysterischer Ausbruch, ein großes Accelerando und Crescendo. Immer wieder werden dieser Satz und seine Fragmentationen in einem rasenden Tempo geflüstert. Immer weiter steigert sich die Angst, die Hyperventilation, die Ohnmacht. Geschockt und gefangen in einem Teufelskreis aus Depression, Pessimismus und Perversion ist der/ die Sänger*in in diesem Stück. Ganz der Art des Schriftstellers Hans Henny Jahnn gleichend, an den diese Miniatur angelehnt ist.
„III. Tanzt mit dem Leben“ ist ein schneller, lebendiger und sorgenloser Tanz. Doch der Schein trügt. Denn das Stück besteht nur aus einzelnen Punkten und Akzenten in schneller Abfolge, die unterbrochen werden von lang gezogenen Konsonanten, die den Tanz ins Stocken bringen. Zudem sind die Bewegungen eckig und unorganisch und keinesfalls einem fließenden und galanten Tanzstil gleichend. Mario Wirz schrieb diesen Satz in einem Gedicht an seinen Freund Rosa von Praunheim kurz vor seinem Tod. Er will tanzen, froh sein und das Leben genießen, trotz all der Pein und Gewalt, die die AIDS-Erkrankung ihm über lange und zähe Jahre gebracht hat.
„IV. sehe nur weiß“ hingegen erscheint betäubt und ohnmächtig, der/ die Sänger*in ist scheinbar dissoziiert, losgelöst von der Wirklichkeit, sich ihrer Existenz kaum noch bewusst. Langsam atmend und kaum hörbar singend steht die Person da, betastet sich selbst, berührt sich, fühlt sich sanft. Sie steht vor dem Spiegel und verschwimmt, erkennt sich nicht wieder, weiß nicht, wer sie ist. Alles ist nur noch weiß. Dieses Stück ist eine Interpretation der ersten Szene aus der „Kleinstadtnovelle“ des damals 19 jährigen Ronald M. Schernikau, ein Schriftsteller, ein Kommunist und ein Mensch, mit einer bewegenden Biografie; ein Mann, der sich zu seiner Femininität bekannte, diese lebte und zeigte, der sich auch in aller Fragilität, Sensibilität und Schüchternheit nicht versteckte.
„V. Blut muss frisch sein“ beschäftigt sich mit Eruptionen, Akzenten und impulsiven Ausbrüchen im Gegensatz zu langem Hall und Warten. Es ist das artifiziellste Werk der fünf Gesänge, ein in sich geschlossenes Werk, das in seiner kühlen Art und skizzenhaften Erscheinung an die Arbeiten der Art brut oder Outsider Art erinnert. Unergründlich bleiben die Symbole, abstrakt die Gesten und verschlossen der Mensch dahinter, der gebrochen ist von psychischen Erkrankungen oder geistigen Behinderungen, der vom Wahnsinn angetrieben wird oder vom Schrecken, um Kunst zu erschaffen. Ein Satz eines anonymen Künstlers.
Insgesamt sind diese Werke getragen von einer politischen und aktivistischen Grundhaltung. Sie schwanken immer zwischen harmlosem Spiel und radikalem Ernst. Sie sind stille und unaufdringliche Proteste, die zu tiefst erschüttern und bewegen können. Gerade deshalb und nicht nur durch die fünf homosexuellen Autoren der Texte, sind diese Stücke zu tiefst „queer“ im wahren Sinne des Wortes. Die „Fünf makabren Gesänge“ sind seltsam, sonderbar, eigenartig, suspekt, komisch, kurios und verschroben. Sie sind ein Kampf um die Menschlichkeit, extrem, intensiv, persönlich und makaber. Und gleichzeitig sind sie achtsam und ehrlich, weil sie jeden Menschen annehmen, jedem zusprechen „du bist nicht allein“ und denen eine Stimme verleihen, die sonst nur als krank, pervers und gestört abgestempelt werden.