ESTLAND UND CHORMUSIK
Die Komposition „Wie sein eigenes Herz“ hat ihren Ursprung in meinem Aufenthalt in Estland 2017. Als Erasmusstudent verbrachte ich im Frühjahr ein Semester an der Estnischen Musik- und Theaterakademie. Ich studierte unter Helena Tulve, die mir wegweisende Impulse gab, vor allem dahingehend, mich meiner eigenen Emotionalität und Sensibilität zu stellen und diese als meine Stärken anzuerkennen. Persönliche, biografische, aktivistische oder subjektive Themen in meine Arbeit einfließen zu lassen, war mir bis zu diesem Zeitpunkt, als ein Komponist, der seine Arbeit sonst als wissenschaftliches Experimentieren mit abstrakten Gefühlen und ernstes Suchen nach fortschrittlichen Wegen versteht, sehr schwergefallen. Die Wintermonate alleine im kalten, grauen und verschneiten Estland gaben mir Raum und Zeit, mich auf mich selbst zu besinnen, auf meine inneren Werte, meine Überzeugungen und meine Vorstellungen davon, wie meine Kunst aussehen soll. Die Erfahrung, ganz für mich zu sein, fern von meiner Familie und meinen engen Freunden veränderte mich, zeigte mir in der Abwesenheit doch deutlich, wie wichtig und wertvoll mir diese Beziehungen und Verbindungen zu geliebten Menschen sind.
Schon seit meiner frühesten Kindheit singe ich. Die Kantorei der Stiftskirche wurde während meiner Jugendzeit meine musikalische Heimat und in Lübeck studierte ich mit dem Schwerpunkt Chordirigieren und sang in verschiedenen Vokalensembles. Dennoch sollte mein Semester in Tallinn meine Denkweise und mein Verständnis von Chormusik nachhaltig ändern. Estland ist bekannt für seine gelebte Chortradition, die Aufgrund der Zugehörigkeit Estlands zum Deutschen Orden im Mittelalter, dem Kulturerbe hanseatischer Deutsch-Balten und durch die nationalsozialistische Besetzung Ähnlichkeiten mit der deutschen Kultur und ihren Gesangvereinen aufzeigt, aber vorrangig geprägt ist von der baltischen Volksmusik, den großen Kompositionen estnischer Komponist*innen und der Erfahrung politischer Schlagkraft als friedliche „Singende Revolution“. Noch heute kommen alle fünf Jahre etwa 10% der gesamten estnischen Bevölkerung zum großen Liederfest zusammen, um zu singen oder dem Gesang zu lauschen. Weltweit ist, nicht nur durch die Werke von Arvo Pärt, die estnische Chormusik und ihr sauberer, ruhiger und feiner Chorklang bekannt geworden. Ich selbst sang in Estland in mehreren Chören und vor allem meine Erfahrungen mit den Dirigenten Tõnu Kaljuste und Lodewijk van der Ree hinterließen tiefe Spuren in mir. Chormusik wurde für mich durch diese Menschen zu mehr als nur einem Singen aus Freude. Es wurde zu einem bewussten Akt, bei dem jedes Wort einem überzeugten Bekenntnis gleicht, jeder Ton ein liebevoller, klarer und leuchtender Kristall wird, jede Melodie und jeder Akkord eine ruhige, weite und unendliche Landschaft offenbart.
DAS WORT UND THEOLOGISCHES KOMPONIEREN
Den Auftrag zur Komposition einer Kantate zur Eröffnung der renovierten Stiftskirche Backnang erhielt ich zur selben Zeit als die großen Feierlichkeiten zum Lutherjahr 2017 stattfanden. In diesem Jahr, 500 Jahre nach der Reformation, stellten sich sehr viele Menschen die Frage, wie zeitgemäßer Glauben aussehen könnte, ob in unserer Gesellschaft überhaupt noch Raum und Platz für Religion ist, ob die Kirche als Institution nicht längst ein überholtes Produkt einer düsteren Vergangenheit sei. Für mich bot diese Anfrage die Chance, mich der großen Herausforderung zu stellen, die die Komposition einer zeitgenössischen Musik für semiprofessionellen Laienchor, mit evangelisch-theologischer Überzeugung, auf biblische Texte zu einem feierlichen Anlass darstellt. Aufgrund meiner Faszination für die Seelsorge, meiner Freude an sozialer Arbeit und meines neugierigen Glaubens, spielte ich während meiner Jugend lange Zeit mit dem Gedanken, Theologe zu werden, entschied mich jedoch für die Musik. Dennoch blieb die Theologie auch weiterhin ein wichtiger Teil meines Lebens.
Ich hatte mich schon vor „Wie sein eigenes Herz“ mehrfach analytisch, theoretisch und kritisch mit Überlegungen zu spekulativer Spiritualität, religiöser Musik und theologischem Komponieren auseinandergesetzt. Nun musste ich diese Gedanken in die Praxis umsetzen und meinen Weg finden, diesen Anforderungen gerecht zu werden.
Was Luther, und mit ihm verbunden auch die protestantische Auslegung des Christentums ausmacht, sind zum einen der thematische Fokus auf das Abendmahl in der offenen Gemeinschaft, die Vergebung der Sünden durch einen gnädigen Gott und die damit verbundene Nachfolge der Menschen in einem bewusst gelebten Glauben und zum anderen die Reduktion von Dekadenz, Ornament und Kitsch, um einen klaren, schlichten und besinnlichen Glauben zu ermöglichen. Gerade diese Reduktion findet sich auch in der Renovierung und Modernisierung der Stiftskirche wieder.
Ein essentieller Teil der evangelischen Praxis und Liturgie ist die Predigt, die Verkündung des Wortes und dessen Interpretation. Natürlich muss jeder Mensch seinen eigenen Glauben finden, aber immer wieder bin ich berührt von den Interpretationen anderer Menschen, sei es von Theologen wie Dietrich Bonhoeffer in seiner „Nachfolge“, von Autoren wie Dietmar Dath in seinem kunstvollen Roman „Leider bin ich tot“, von Künstlern wie Johannes Schreiter in seinen Glasfenstern der Briefkapelle St. Marien zu Lübeck oder von Komponisten wie Olivier Messiaen in seinem „O sacrum convivium“.
Theologisches Komponieren ist für mich kein scheinheiliger Lobgesang der Heiligen auf eine paradiesisch heile Welt, keine verklärte Meditationsmusik der Erleuchteten um alle Probleme der Menschheit zu lösen oder zu verdrängen und auch keine plakative Mitmachaktion der Massen um ein Gruppengefühl der Überlegenheit und Einheit zu schaffen. Sondern theologisches Komponieren heißt für mich, anzuerkennen, dass Glaube kritisch, wandelbar, reflektiert, ernsthaft und zweifelhaft ist. Wenn ich das Wort in den Mittelpunkt stelle und mein Stück wie eine Predigt strukturiere, schaffe ich die Möglichkeit, etwas zu erleben und zu fühlen, das zum Nachdenken anregt, das uns selbst hinterfragen lässt, woran wir glauben, warum wir daran glauben, was für Konsequenzen wir aus diesem Glauben ziehen und wie wir selbst unser Handeln ändern oder danach ausrichten wollen- und all das eben nicht durch einfache Verbote und Gebote, durch eindeutige Lösungen und Parolen, durch Ausschluss, Extremismus, Radikalisierung und Missionierung. Sondern durch ganz persönliches Nachfolgen und Lieben.
NACHFOLGE UND LIEBE
„Wie sein eigenes Herz“, der Titel, bezieht sich auf den Bund welchen David und Jonatan zwischen ihrer Freundschaft schließen. In einer der gefühlvollsten Geschichten der Bibel wird geschildert, was genau einen Bund der Liebe ausmacht. Einen Bund zwischen zwei Menschen, ebenso wie zwischen dem einzelnen Menschen oder den Menschen als Gemeinschaft und Gott. Es geht um bedingungsloses Vertrauen, gegenseitige Zuneigung und warmherzige Nähe. Diese Liebe begegnet uns in der Bibel immer wieder in verschiedensten Worten, sei es im Abendmahl, in der Nachfolge von Rut und Noomi, der Berufung des Propheten Samuel, der Anrufung des verzweifelten Jonas, in dem neuen Bund zwischen Gott und Noah oder in der Stille, in der Elija Gott vernimmt. Diese Liebe ist ein Versprechen und ein Aufruf dazu, unser Handeln zu überdenken, uns zu verändern und Nachfolge anzutreten.
Schnell war für mich klar, dass diese für mich und meine Auftraggeber sehr wichtige Kantate, über genau dieses Thema des Bundes der Liebe kreisen sollte. Im selben Monat, in dem ich meinen Auftrag erhielt, trat die nach jahrzehntelangen Demonstrationen und aktivistischer Arbeit beschlossene „Ehe für alle“ endlich in Kraft. Noch heute ist die württembergische evangelische Landeskirche die Einzige in Deutschland, die noch immer keine offizielle Segnung oder Ehe für alle Menschen zulässt. Für mich, der ich seit mehreren Jahren sehr aktiv engagiert bin in der queeren Bildungs- und Antidiskriminierungsarbeit ist das, ebenso wie der dieses Jahr besonders sichtbar und deutlich gewordene Anstieg von Hasskriminalität, Übergriffen, Ungleichbehandlung und radikalen, sogar tödlichen, Anschlägen auf Menschen wie mich ein trauriges Zeichen.
„Liebet!“ Das ist die Kernbotschaft meiner Komposition „Wie sein eigenes Herz“. Damit ist für mich nicht nur die romantische Liebe oder die sexuelle Liebe gemeint, die in der Mehrheitsgesellschaft immer noch als normal gilt und überall präsent ist, in Werbung, Filmen, Büchern und auch der Religion. Ich möchte den Blick auch auf die platonische Liebe lenken die im Bild von David und Jonatan ein Symbol findet. Platonische Liebe ist vergebend, entgegenkommend, achtsam, vielseitig, unscheinbar und so vieles mehr. Sie hat viele Gesichter und viele Menschen erleben sie auf unterschiedlichste Weise. Sie kann uns stark machen, kann uns ein Licht in der Dunkelheit sein, kann uns Mut geben und die Kraft, aus unserer Scham, Angst und Unsicherheit herauszutreten in ein erfülltes Leben. In ihr wird für mich deutlich, was Gott uns mit seiner Liebe zu uns zeigt, in dem Bund, den er mit uns aus Liebe geschlossen hat, und den wir mit ihm schließen dürfen, in dem Regenbogen, den er als Zeichen der Liebe und des Bundes über uns hell und farbenfroh am Himmel leuchten lässt.
Dieses Stück ist meinen geliebten Menschen gewidmet.
I. SIEHE, HIER BIN ICH
Das Stück beginnt in zweierlei Hinsicht ganz persönlich. Zum einen mit „meinem“ Instrument, der Trompete, zum anderen mit einem Text aus der biblischen Geschichte „meines“ Namensgebers Samuel, der von Gott Erbetene oder Erhörte. Die Trompete eröffnet mit einer Anrufung, der Chor antwortet mit den Worten „Siehe, hier bin ich.“. Das „Siehe“ nimmt in der ganzen Komposition eine zentrale Rolle ein. In der Bibel leitet das kleine Wort „Siehe“ immer wieder besonders wichtige Aussagen ein. Es ist ein Zeichen, dass wir aufmerksam und achtsam werden sollen, um mit ganzer Hingebung zu sehen, zu hören, zu fühlen, zu erleben, zu verstehen. Mit dem dreifachen „Hier bin ich“, welches als ruhiger, aber stets dringlicher und stärker werdender Choral gesetzt ist, öffnet sich Samuel zunächst dem Menschen, den er hinter der Stimme vermutet, und dann schließlich Gott gegenüber.
Mir ging es mit dieser sehr schlichten Eröffnung meiner Kantate darum, die Grundstimmung zu schaffen für das, was folgt, einzuleiten in das aktive Dasein und das aktive Erleben. Keine laute, pompöse, feierliche Musik leitet den Beginn der Kantate ein, sondern eine eher unaufdringliche Musik. Wir öffnen uns der Musik, indem wir uns in ein Konzert begeben, machen uns empfänglich für die Klänge, die Worte und das, was wir emotional erleben. Wir öffnen uns dem Wort Gottes, indem wir uns in eine Kirche begeben, uns hinsetzen, schweigen, beten und alles, was uns belastet, hinter uns lassen.
II. ICH HÖRTE DICH
Allein und einsam beginnt das Fagott sein großes Solo, eine melancholische Elegie. Dann wird dieses Alleinsein plötzlich gestört.
Erste Begegnungen mit anderen Menschen können sehr vielseitig sein. Sie können uns mit Angst, Scham, Ehrfurcht erfüllen. Mit Angst, dass wir etwas falsch machen, etwas Falsches sagen, einen schlechten Eindruck hinterlassen könnten. Mit Scham, weil wir uns bewusst sind, wie fehlbar, nichtig und klein wir sind. Mit Ehrfrucht, weil wir unser Gegenüber als viel selbstbewusster, mächtiger, liebenswerter oder stärker empfinden. Oft ziehen wir es vor, dem Kontakt mit neuen und fremden Menschen und allgemein mit dem Neuen und Fremden auszuweichen. Es ist leichter, sich davor zu verstecken, sich nur in gewohnten Umgebungen aufzuhalten, das scheinbar sichere Haus nicht zu verlassen, kein Wagnis einzugehen. Denn wir wollen uns nicht nackt und nichtig wie Staub vorkommen.
Doch wenn wir eben dies nicht wagen und uns vor anderen Menschen, vor dem Neuen, dem Fremden, ja, wenn wir uns vor Gott verstecken, dann werden wir kein Glück finden. Dann würde die Geschichte und das Stück schon an dieser Stelle enden. Stattdessen müssen wir uns, trotz der Tatsache, dass wir alle sterben werden, dass all unser Tun und Lassen zu Staub zerfallen und alles Menschliche vergehen und verwehen wird, dem Ruf des Ungewissen stellen. Wir haben auf die Anrufung geantwortet und müssen nun unser sicheres Versteck verlassen. „Wir sind Staub. Der Staub singt“. So eines meiner älteren Kurzgedichte, welches zu einem Symbol für meine Musik wurde. Denn gerade, weil wir Staub sind, bleibt uns letztlich nichts anderes übrig als uns hinzugeben, als mit unseren schwachen Stimmen zu singen, als die Begegnung mit dem Anderen, Neuen und Fremden zu wagen.
III. DU WARFST MICH
Die Geschichte von Jona, der ins Meer geworfen wurde und zu Boden sinkt, von einem Wal gefressen und letzten Endes von Gott errettet wird, ist wohl eine der dramatischsten und bildlich eindrucksvollsten Bibelgeschichten. Hier können sich alle Menschen wiederfinden. Die Conditio humana scheint oft eine nihilistische, pessimistische und depressive zu sein. Wir sind umgeben von so viel Leid, Schmerz, Gewalt, Ungerechtigkeit, Missbrauch, Krieg, Terror, Verzweiflung, Katastrophen. Tagtäglich werden wir überflutet und überschüttet von grausamen Bildern, hören schreckliche Nachrichten, ertragen schmerzvolle Erlebnisse und sind gefangen in einem scheinbar ohnmächtigen Taumel der Dunkelheit, die uns immer tiefer hinabziehen.
Unser scheinbar sicheres Versteck war nie ein sicheres gewesen. Der Ruf Gottes, auf den wir geantwortet haben, hat uns noch keine Lösung, keine Erlösung, kein Paradies gebracht. Viele Menschen fühlen sich einsam, verlassen, im Stich gelassen, ausgenutzt, enttäuscht, ausgebrannt. Sie haben abgeschlossen mit der Hoffnung, dass es einmal anders, besser, liebevoller sein könnte und sein wird. So klingt der Tenor zu Beginn der Arie auch sehr vorwurfsvoll und klagend über die Situation, in der er sich nun befindet. Seine Wut und sein Zorn steigern sich immer weiter, wie die Wellen, die gleichzeitig über ihn hereinstürzen. Er wird immer verbitterter und düsterer, wie das Meer, in welchem er versinkt. Dann schließt er scheinbar mit sich und seinem Leben ab. Doch ein letztes Mal erhebt er flehend seine Stimme, schreit gegen den tosenden Sturm und Lärm an, der ihn auf dieser Welt umgibt. Bittet noch einmal darum, dass es doch Stille werden würde, dass sein Herz Ruhe finden möge.
IV. SEID STILLE
„Ich will schweigen können“. Vor vielen Jahren wurde dieser poetische Satz zu meinem selbstgewählten Motto als Künstler und Komponist. Meine Musik soll nicht unterhalten, soll nicht untermalen, soll nicht im Hintergrund einfach so dahinplätschern, soll nicht lärmen, soll nicht schwafeln. Sie soll so abstrakt, reduziert, klar und still wie möglich sein. Fast nichts mehr soll übrigbleiben, und dann will ich sehen, was bleibt. Was bleibt in der Stille. Welche Klänge, welche Farben, welche Formen, welche Worte, welche Gefühle. So lange es Leben gibt, wird es nie eine vollkommene Stille geben. Aber wenn wir uns dieser Stille annähern, beginnt alles an Bedeutung, Intensivität, Expressivität und Emotionalität zuzunehmen.
Dieser Satz besteht aus einer Klangfläche atmender, flüsternder, hauchender Menschen. Statt Tönen erklingen Vokalfarben und Farben verschiedenen Rauschens, statt Melodien bewusst gesetzte Sätze, statt rhythmischen Motiven einzelne Punkte im Raum. Diese Musik bildet einen Kontrast zu den übrigen Sätzen der Kantate, gleichzeitig bildet sie auch den Mittel- und Wendepunkt. Hier findet die Umkehr statt. Hier entscheidet sich ein Mensch, sein Handeln zu ändern, sein Denken in Frage zu stellen, sich darauf vorzubereiten, einen Bund einzugehen mit einem anderen Menschen oder mit Gott, eine Nachfolge anzutreten. Hier wird ein Mensch bereit für den Bund der Liebe. Und dies geschieht nicht durch eine bewusste Aktion, ein opulentes Opfer, durch großes Handeln, bemerkenswerte Gesten oder glorreiche Errungenschaften. Nein, es geschieht durch das Schweigen, das Stillwerden. Denn das „Ich“ sind nicht mehr wir selbst. Das „Ich“, das zu uns spricht und die Verwandlung in uns anstößt, ist nun das aktiv handelnde und auf uns zugehende Gegenüber.
V. SIEHE, DIES IST
Das Abendmahl ist die für mich entscheidende Zeremonie des christlichen Glaubens. Musikalisch ist dieser Satz der kargste und schlichteste in der Kantate. Der Solotenor singt nüchtern und bewusst die Abendmahlsworte, einzelne Akkorde schaffen dazu einen Raum, alles ist ruhig und getragen von Andacht und einem Gefühl von Unendlichkeit. Hier wird der Bund rituell vollzogen. Hier gibt sich ein Mensch voll und ganz in Gottes Hände. Hier schenkt uns Gott seinen neuen Bund. Wie an anderen Stellen der Komposition, bestärkt das „Siehe“ erneut die Bedeutung dieses Moments.
Körper und Blut, Brot und Wein. Sie sind die Gegenstände, mit denen die Handlung ausgeführt werden. Unser Geist wird erlöst, wenn wir ihn in Gottes Hände befehlen und legen. Im Abendmahl können wir wirkliche Stille finden. Denn auch wir werden eines Tages unseren Körper und unser Blut hingeben und darauf hoffen, dass uns seine Hände tragen und begleiten werden. So wie auch wir nun als nachfolgende Menschen bereit sind, andere Menschen zu tragen und zu begleiten. Das Geschenk des Abendmahls ermöglicht es unserem Geist, das Geschenk der Liebe zu begreifen und weiterzugeben und selbst neue Bünde einzugehen mit anderen Menschen. Bünde, wie ihn David und Jonatan geschlossen haben: „Als David aufgehört hatte, mit Saul zu reden, verband sich das Herz Jonatans mit dem Herzen Davids, und Jonatan gewann ihn lieb wie sein eigenes Herz. Und Jonatan schloss mit David einen Bund, denn er hatte ihn lieb wie sein eigenes Herz.“ (1. Samuel 18/1+3)
VI. REDE MIR NICHT EIN
Dieser komplexe Satz besteht aus vier Abschnitten. Er beschreibt, von Worten der Frauen Rut und Noomi ausgedrückt, die praktische Umsetzung der Nachfolge. Was zunächst sehr melodisch und lyrisch beginnt erscheint wie ein zartes Liebeslied von Oboe und Englischhorn. Doch die Stimmung ist getrübt, die Melodie wird immer enger, schärfer, schmerzvoller, denn was die Frauenstimmen singen zeigt uns, wie schwer es sein kann, einen Bund der Nachfolge anzutreten. Oft steht der Liebe viel im Weg, manche Menschen werden für ihre Liebe verfolgt, ausgeschlossen, benachteiligt oder sogar ermordet. Da scheint es leichter zu sein, umzukehren, den Bund wieder aufzulösen, ihn zu verleugnen, die Liebe sein zu lassen. Doch gerade das soll nicht geschehen.
Von leichten Orgelfiguren und dem wiederkehrenden „Siehe“ eingeleitet, folgt der zweite Teil mit einem schlichten, duophon gesetzten Chorsatz, welcher die Hingabe erneut bestätigt, mit einem Texteinschub von Maria, die sich bereit erklärt, Gott zu folgen und sich ihm anzuvertrauen.
Dieser intime Moment wird durchbrochen von den lauten Ausrufen „Alles, was du mir sagst, will ich tun“. Sie verdeutlichen die Gefahr des Überkippens in eine negative Form der Liebe. Oft haben wir den Wunsch, alles für den anderen Menschen zu tun, sehnen uns nach totaler Selbstaufgabe, nach dem Abgeben unserer Mündigkeit, dem Übertragen aller Verantwortung und Souveränität, um uns in der Beziehung voll und ganz aufzulösen. Aber dies ist nicht der Sinn einer bewussten Nachfolge, sondern ein gefährlicher Mechanismus aus Co-Abhängigkeit und Anhänglichkeit.
Zum letzten Teil überleitend bleibt das letzte „will ich“ wie ein offenes Fragezeichen stehen, die Oboen erklingen wie ein verfremdetes Echo des Anfangs und das Englischhorn verbleibt so allein und einsam wie das Fagott im zweiten Satz. Doch dieses Mal gelingt der Bund, die Beziehung ist vollkommen, die Nachfolge wird gelebt, die Liebe siegt. Mit einem zärtlichen und ruhigen Choral, den chronologisch ersten von mir für diese Kantate komponierten Takten, der uns alle anspricht und uns sagt „Fürchte dich nicht.“
VII. Liebet
Das höchste Gebot ist das Doppelgebot der Liebe. Der Aufruf, von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit aller Kraft zu lieben. Ich als Mensch habe meine Schwierigkeiten mit starren Geboten, Verboten, Gesetzen, Befehlen. Denn ich bin der festen Überzeugung, dass alles relativ, spektral, vielseitig, komplex und wandelbar ist. Es gibt nicht ein Richtig und Falsch, ein Schwarz und Weiß, ein Gut und Böse. Aber dennoch habe ich diese Sätze an das Ende meines Stücks gesetzt. Zudem noch in einer sehr deutlichen Dramaturgie, einer ganz einfachen Crescendo-Form die sich vom leisen und schüchternen Ton immer weiter steigert zum großen Finale, dem alles erschütternden und aufwühlenden Aufruf zur Liebe. Anders als ein Gebot ist ein Ruf etwas, zu dem wir uns bekennen können, mit dem wir uns auseinandersetzen und dem wir uns ganz bewusst hingeben können. Liebe ist eine Frage der Entscheidung aus unseren Herzen heraus, nicht von Gott bestimmt oder von Herrschern oder anderen Menschen, sonst ist es keine Liebe.
Liebe ist Arbeit, deshalb benötigt sie auch Herz, Seele und Kraft. Denn wer den Bund der Liebe und die damit verbundene Nachfolge eingeht übernimmt Verantwortung, für sich selbst und für seinen Nächsten.
Gerade dieser Punkt ist mir sehr wichtig geworden während der Komposition an „Wie sein eigenes Herz“. Denn in einer Welt, in der sich fast alles um Selbstoptimierung, High-Performance, Erfolg, Coolness und maximalen Konsum dreht, geht dieser oft verloren. In der Liebe zu sich selbst geht es nicht um Egoismus und ein dekadentes Luxusdasein, sondern um einen aufrichtigen und verantwortungsvollen Umgang mit sich selbst, seinen Bedürfnissen, Gefühlen, Wünschen, Schmerzen, Enttäuschungen, Träumen, Hoffnungen, Möglichkeiten. In der Liebe zu seinem Nächsten geht es nicht um einen vierstelligen Freundeskreis in den sozialen Medien, sondern um aufrichtige Beziehungen zu anderen Menschen, zu einem achtsamen und liebevollen Umgang mit dem Neuen, Fremden und Anderen und um eine Liebe, die geprägt ist von Fürsorge, Respekt, Entgegenkommen, Verzeihen und Offenheit für Veränderungen. So kann ich mit ganzem Herzen sagen: „Liebet!“
Wie sein eigenes Herz (1.Samuel 18/1-4)
I. „Siehe, hier bin ich“
Siehe, hier bin ich.
Siehe, hier bin ich.
Siehe, hier bin ich.
Rede, denn ich höre.
(1.Samuel 3/4+10)
II. „Ich hörte dich“
Ich hörte dich und fürchtete mich
denn ich bin nackt und bloß
und liege strampelnd in meinem Blut.
Ich bin nackt gekommen
und nackt werde ich dahinfahren.
Ich bin Staub
und zum Staub kehre ich zurück.
Darum versteckte ich mich.
(1.Mose 3/ 10+19; Hesekiel 16/22; Hiob 1/21; Prediger 5/14)
III. „Du warfst mich“
Du warfst mich in die Tiefe,
mitten ins Meer,
dass die Fluten mich umgaben.
All deine Wogen gingen über mich,
Wasser umgaben mich,
die Tiefe umringte mich,
Schilf bedeckte mein Haupt.
Ich sank hinunter zu der Berge Gründe,
der Erde Riegel schlossen sich hinter mir.
Vom Ende der Erde rufe ich zu dir,
denn mein Herz ist in Angst.
Banne den Sturm zur Stille,
dass die Wellen sich legen.
(Jona 2/4-7; Psalm 61/3; Psalm 107/29)
IV. „Seid stille“
Seid stille.
Ich will dich trösten und leiten.
Ich will mein Gesetz in dein Herz geben.
Ich will dir deine Missetat vergeben.
Ich will deiner Sünde nimmermehr gedenken.
Ich will dein Trauern in Freude verwandeln und dich trösten und dich erfreuen.
Ich will dich heilen und gesund machen und will dir dauernden Frieden gewähren.
Ich will einen neuen Bund schließen.
(Zefanja 1/7; Jeremia 31/9+13+31+33+34, 33/6)
V. „Siehe, dies ist“
Siehe!
Das ist mein Körper.
Siehe!
Das ist mein Blut.
In deine Hände befehle ich meinen Geist.
Siehe!
Das ist mein Körper, der für dich hingegeben wird.
Siehe!
Das ist mein Blut des neuen Bundes.
In deine Hände lege ich meinen Geist.
(1.Korinther 11/23-25; Matthäus 26/26-28; Lukas 22/19, 23/46; Psalm 31/6)
VI. „Rede mir nicht ein“
Rede mir nicht ein, dass ich dich verlassen und von dir umkehren sollte.
Siehe, mir geschehe wie du gesagt hast.
Nicht wie ich will, sondern, wie du willst.
Alles, was du mir sagst, will ich tun.
Siehe, ich will mit dir gehen.
Siehe, ich will bei dir sein.
Siehe, fürchte dich nicht.
(Rut 1/16+17, 3/5; Lukas 1/38; Markus 14/36; Zefanja 3/16)
VII. „Liebet“
Liebe von ganzem Herzen!
Liebet!
Liebe von ganzer Seele!
Liebet!
Liebe mit all deiner Kraft!
Liebet!
Liebe deinen Nächsten!
Liebe auch dich selbst!
Liebet!
(5.Mose 6/5; 3.Mose 19/18; Psalm 31/24)